Gedichte

Im ersten Tau

Pflanze in Waschbetonkübel, der sich von links oben ein Ästchen nähertDie Pflanze steht am Anfang, nein,
sie ist noch nicht,
nicht einmal Keim,
kein Saatkorn, kein Rhizom,
ein reines Garnichts im Erdboden.

Die Sonne scheint, doch auch ihr Licht
zieht aus dem Boden kein Grün, nichts
was sprosst, spriesst, rankt
oder gar knospt, gar blüht;
das Land ist karg und doch der Boden gut.

Ein – ja was ists? – erscheint :
ein Ast? ein Zweig?,
nein es ist Himmels Fingerzeig,
der aussieht wie ein Ästchen
(zumindest so ein bisschen).

Die Stimme sagt: Du seist,
sie sagt: Ich mein, du bist
ein Abbild meines Angesichts
und also grün und auch mit Blättern,
mal ganz am Boden, mal am klettern

und jedenfalls photosynthetisch
voll drauf und energetisch
ein Wachstumsmonster, Bambussprosse,
grasgrüner Klee und Brunnenkresse,
’s ist gleich – dir schenke ich die Welt.

Sagt es und im Boden schwillt
etwas, in der Tat, schaut aus der Erde,
spitzt die Blätter, sagt: Ich werde …
werde wachsen in die Wolken, Sonne, Himmel,
sagts und schießt und sprosst – und wird verstümmelt,

denn die Stimme hat inzwischen
Katzenminze, Entengrütze, Eberesche
in die Welt gesetzt und, nicht genug,
schuf sie Kobralilien, Fliegenfallen, Ungeheuer
und, zu guter Letzt, schuf sie die Wiederkäuer.

Pflanze in Waschbetonkübel, der sich von links oben ein Ästchen nähert

Die Erschaffung Floras, Foto: Martin Bartholmy. Eine hochaufgelöste Version dieses Bildes findet sich hier.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erschaffung Floras, Foto: Martin Bartholmy. Eine hochaufgelöste Version dieses Bildes findet sich hier.