Geschichte

Was die Städte sagen. Ein Roman in 25 Orten (2)

(Kapitel 23)
Paderborn

Die Zugbegleiterin kommt. Ich zeige ihr Fahrkarte und Bahncard. Sie mustert letztere, dann mich und sagt: Sehr ähnlich sieht das Foto ihnen nicht.
Ich versichere ihr, ich sei es, und sie lacht: Nur ein Scherz. Aber auf dem Bild sehen sie wirklich vorteilhafter aus.
Wie sie geht, wende ich mich zur Scheibe. In der Tat blicke ich daraus zerzaust zurück. Der Bahnsteigwind hat mein nicht mehr sehr volles Haar gründlich verwüstet, hier liegt zu viel, dort zu wenig. Ich beschließe, den überfälligen Eingriff vornehmen zu lassen.

Nicht lange, und wir sind in Paderborn. Dem Hauptbahnhof gegenüber steht das Arbeitsamt, erbaut im wenig schmeichelnden Stil der 1970er Jahre. Damals begann die Misere, doch noch war genug Geld vorhanden, mit Ämtern als Molen die Wellen des sozialen Wohnungsbaus zu brechen. Neben dem Haus mit dem beinamputierten A stehen eine Apotheke und die Verbraucherzentrale. An einen Ort des Unglücks bin ich geraten: Arbeitslos, krank, belogen und betrogen, dazu dieses Autokennzeichen, schwer und nach unten ziehend: PB, plumm-bumm, plumm-bumm … etwas fällt in einen tiefen Schacht; etwas kommt nie wieder. Auf erste Zeichen soll man hören, aber glauben – glauben braucht man ihnen nicht.
Das Stadtzentrum ist teils Fußgängerzone, teils verkehrsberuhigt, was sinnvoll ist, denn die Fahrwege wurden zu einer Zeit angelegt, als das Wort Überholmanöver noch unbekannt war. In unguter Spannung zu den Gassen steht ein Großteil der Häuser. Sie wurden zu einer Zeit errichtet, als das Wort Berufspendler schon in den Wortschatz eingedrungen war. Ein paar betagte Häuser gibt es aber doch, wenn auch nicht so viele wie Kirchen. Die Innenstadt zerfällt in zwei Teile: Hier Nonnen, Nonnen, graue Nonnen vermengt mit Busladungen von gleichfalls alten, jedoch bunt windbejackten Touristen aus allen Gauen Deutschlands, dort Teenies, Teenies, frische Teenies, Spaghettiträger, Turnschuhe ungebunden, viel Migrationshintergrund. Allein auf dem Rathausplatz gehen die beiden Fraktionen in Emulsion. Ein wenig befremdet bekuckt man sich, lässt sich aber ansonsten in Ruhe: shoppen und sterben lassen. Die Nonnen, stelle ich mir vor, wenden sich im Gebet an ihren Gott und bitten, er möge der Produktpiraterie Einhalt gebieten und die markenanbetende Jugend von ihren Götzen loseisen, auf dass sie, statt der griechischen Göttin des Sieges zu frönen, ihre Seele dem echten und einzigen Christkindl zu Markte tragen. Es wird nichts nützen: Auf Götter gibt es keinen Markenschutz – zu geringe Schöpfungshöhe.

Neben dem Rathaus reißt man die Straße auf. Ein japanischer Bagger schaufelt deutsche Erde auf einen schwedischen LKW. Die Baustelle umkurvt ein Bus: Mastbruch, lese ich auf der Fahrzielanzeige. Schiefe Dinge, halbe Sachen. Ohne Schotbruch bringt ein Mastbruch kein Glück, und hat man kein Glück, stellt sich das Ungeschick von alleine ein.
Von all dem wie verhext bleibe ich stehen und sehe mich um, den Blick gesenkt. Das Ungeschick ist eine moderne Medusa : Sieht man ihr unverhohlen ins Auge, wird man zum Tollpatsch. Die moderne Nike hingegen will bewundert sein : Wie Eros kommuniziert sie plakativ und setzt auf Werbung, auf schlichte Zeichen, aufs Schild.
Mein Auge sieht, mein Auge zieht es hin zu einem Pfeil. Der Pfeil zielt auf die Paderquellen, und diesem Pfeilzeig folge ich, denn, alte Pfadfinderweisheit, willst du die Welt verstehen, dann sollst du zu den Quellen gehen.

Auf dem Weg komme ich an einem Frisörsalon vorbei, trete ein und frage, ob man mich auch ohne Termin …? – Klaro. – Umgehend werde ich in den Sessel gebeten, aufgebockt und drapiert. Die Frisörin, etwa 30, türkischstämmig, schwarzes Haar bis in die Taille, fragt mich, wie es sein dürfe? Ich zeige ihr meine Bahncard und bitte sie, auch den Bart zu stutzen. Sie macht sich ans Werk, wobei sie einer Auszubildenden fast jeden Handgriff erklärt, und das stets mit dem Zusatz: Ist ganz einfach! – was mich freut: Das Leben ist kompliziert genug, umso schöner, hat man wenigstens einfaches Haar.
Sie versucht eine Unterhaltung anzuschubsen. Ich beschränke mich auf Mhms und Achsos – nicht etwa, weil ich mich nicht mit ihr unterhalten will : Beim Frisör kann ich nicht. Sitze ich mir im Spiegel gegenüber, dienstfertig, die Augen gesenkt, dann geht Unterhaltung nicht : Ich bin befangen. Sie scheint es nicht zu stören, entweder, weil sie gleichweg gerne redet, oder weil sie aus Berufserfahrung weiß, dass es vielen Männern so geht wie mir.
Ich höre also zu und höre:
… was ja logisch ist, wenn man bedenkt, wie schnell das nachwächst. Früher haben das hier alle so gemacht, mindestens einmal im Monat: Runter zur Quelle, eingetaucht oder eine Hand voll auf den Kopf, und im Winter gabs eine Wärmstelle und Durchlauferhitzer.
Ich sage: Achso.
Sie dreht sich zur Azubine und sagt: Siehst du? Ist ganz einfach. Und da dann mit dem Messer.
Sie schabt mit der Rasierklinge an meinem Nacken.
Klar, sagt sie: Im Winter friert die Quelle zu, größtenteils, ist ja kaum tief. Aber eben nicht komplett. Ganz früher, also das habe ihr die Thea erzählt, dass sei die Oma ihrer Chefin – eine ganz Süße sei das –, ganz früher, sagt die Thea, seien die Leute nach der Kirche zur Quelle, denn man habe gesagt: Für die Seele geh zum Pater, für die Haare in die Pader. – Sie selbst habe es ja erst nicht geglaubt, sei aber neugierig geworden, und sie habe sich gesagt: Sauber ist das Wasser, und also, selbst wenn es nichts bringt, schaden wird es dir nicht.
Mhm, mache ich und blähe, schürze die vom Haarstaub juckenden Nasenflügel.
Warten sie, sagt sie. Und ans Lehrmädchen gewandt: Siehst du, dafür gibt es den Pinsel – genau, den da – : zum Haare wegmachen. Ist ganz einfach. Oder du nimmst den Fön. – Sie nimmt den Fön und pustet mir den Juckreiz aus dem Gesicht.
Gleich ihr ganzes Haupthaar in die Pader tunken wollte sie aber nicht – was sollen die Leute denken, wenn sie da herumrenne mit Handtuch um den Kopf: Wieder typisch die Orientalen! Windig gewesen sei es zudem und Krankheitstage könne sie sich nicht leisten, in ihrem Job, da zähle die Kundenbindung, und die Kundenbindung bestehe darin, dass man an den Kunden gebunden sei, wie Klotz ans Bein … Müssen sie jetzt nicht falsch verstehen – ich mag meine Arbeit. Nein, sagt sie, sie habe eine leere Flasche genommen, diese an der Quelle befüllt und dann zuhause in Ruhe damit die Haare gewaschen. – Und – was ist passiert? Nichts ist passiert.
Ihr Spiegelbild lacht mich an: Gut so? – Sie wischt mir mit den Fingern über die Schläfen. Sie sagt: Das muss auch kürzer, und sie beschnippelt die Augenbrauen.
Zufrieden nickt sie meinem Spiegelbild zu und meines nickt retour. Sie sagt, nach dieser Pleite sei sie zu Oma Thea, habe der alles erzählt, haarklein, und die habe gesagt, na klar – kein Wunder : keinesfalls dürfe man Shampoo nehmen oder sonst etwas dem Wasser zusetzen, dann funktioniere es nicht.
Diesen Rat habe sie befolgt: … und ich kann ihnen sagen, danach hat es gewirkt wie Gift. – Sie schüttelt ihr Haar, zieht einen halben Meter hinterm Rücken hervor, hält es in Richtung Spiegel. Sie sagt: Vor vier Wochen hab ichs abgeschnitten – so. Sie zieht die Hand von Schlüsselbein zu Schlüsselbein: … und danach einmal die Woche Paderwasser drauf – und sie sehen ja … toller Glanz außerdem.
Ich mache: Mhm, weiche meinem Blick aus und sehe auf ihr Spiegelhaar.
Sie dreht mich um, Schnitt und Gegenschnitt, und macht sich umgekehrt an mir zu schaffen. Ich sehe auf die Gasse und gegenüber ins Fenster eines Videoverleihs. Ich sage:
Ich habe einmal in Südamerika gelebt, vor Jahren, genau: in Uruguay, und dort, in Uruguay, habe man das Nachbarland Paraguay das Land der Haarlosen genannt, und das, erzählte man, hatte folgenden Grund: Die Paraguayer, denen es im Unterschied zu den Uruguayern an Küste, Hafen und Handel gebrach, hätten als Kompensation ihr kleines Land gnadenlos abgeholzt, bis hinein in die letzten Ecken und die modrigsten Sumpfgebiete. Man habe so auch den dort sehr zahlreichen Bibern den Lebensraum zerstört, was man jedoch dadurch ausglich, dass man sie bejagte und ihnen das Fell über die Ohren zog – so lange, bis kein einziger Biber übrig war. Die Natur aber hasst leere Nischen, und folglich sei es qua Evolution zu einer unvorhergesehenen Nebenwirkung gekommen, nämlich zu einer rasanten Entwicklung, ja zu einer Bevölkerungsexplosion bei den Mini-Bibern, schwer fassbaren, kaum spitzmausgroßen Tieren, und diese Mini-Biber hätte sich, da es nichts anderes zu nagen gab, auf Haare als Knabberzeugs verlegt – und so sei Paraguay denn das Land der Nacktmulle geworden, der arbeitslosen Frisöre und der Glatzköpfe.
Mini-Biber? sagt sie.
Ja, Mini-Biber.
… und Uruguay ist …?
Uruguay liegt am Atlantik. Der Binnenstaat ist Paraguay.
Aha. Ja … das kann man leicht verwechseln. So wie Paderborn und … und …
… und Bad Urach, sage ich: Hier Quelle. Dort Wasserfall.
Genau, sagt sie. Sie beugt sich nach links, nach rechts, prüft und schnippst hier und da noch ein paar Härchen in Fasson, pustet wieder mit dem Fön, holt den Handspiegel: Und?
Wunderbar. Alles aufgeräumt. Vielen Dank.
Sie zieht den Überwurf ab, und ich stehe auf.
An der Kasse frage ich sie: … und warum ist das nicht bekannt, die Sache mit dem Paderwasser? Alle Welt sucht doch nach einem Haarwuchsmittel – da ist viel Geld zu machen –, und bislang hat noch niemand eines gefunden, das auch wirklich funktionierte.
Das, sagt sie, habe sie sich auch gefragt: Komisch, nicht? Selbst hier nutze fast niemand mehr das Wunderwasser der Pader. Dann und wann er-zähle sie es ihren Kunden, weil, folgten die ihrem Rat, wäre das natürlich gut fürs Geschäft. Kaum einer aber wolle es ausprobieren. Ihre Theorie: Das ist den Leuten zu omahaft. Bloß Wasser und dann auch noch umsonst – sowas glaubt dir keiner, sowas gilt nichts, sowas gibts nicht.
… ja, das wäre wohl so, wie wenn Rapunzels Haar und die Sterntaler im selben Märchen fielen, überlege ich laut.
Nee, mischt sich das Lehrmädchen ein. Sie habe das selbst mal probiert: Das war voll blöd! Wenn man da nicht total aufpasse, dann müsse man sich nachher tagelang enthaaren, rasieren, depilieren – und zwar überall, Arme, Beine, sogar Gesicht: … und das tut echt weh wie Scheiß!
So gesehen, denke ich, auch da könnte etwas dran sein. Ich zahle, bedanke mich und gehe.

Ich befinde mich unweit der Quellen, und also will ich sie auch sehen. Auf einer Tafel lese ich, die Pader sei der kürzeste Fluss Deutschlands. Ob die Haarwuchswirkung des Wasser mit der homöopathischen Länge des Gewässers zusammenhängt?
Eine weitere Schautafel erklärt die Paderborner Wasserkunst, eine Einrichtung, die früher dazu diente, das Wasser in die Stadt zu den Brunnen zu pumpen. Heute ist das nicht mehr nötig. Die modernen Zeiten haben das Wasser arbeitslos gemacht, und es darf nun die anderen Arbeitslosen, die hier zahlreich im Park lungern, mit sei-nem überflüssigen Fließen beglücken – alles kreist, alles kreist, wie der Ring um das rote, das einbeinige A.

Rund um die Quelle sind mehrere Rinnsale, und ich beschließe, einem der Bächlein zu folgen. Bald gesellen sich ihm seine Brüder zu, dann, nahe eines Mühlrads werden sie zum Fluss, und mit vereinten Kräften schwimmen sie hinaus in einen Park. Da die Sonne freundlich winkt, folge ich ihr entlang des Wasserlaufs, der sie spiegelt. Durch Wiesenland komme ich zu einem See und schlage den Uferweg ein. Nicht weit davon hebt sich ein brauner Industriebau aus dem Grün. Als ich näher komme, mehren sich die Zeichen, und ich lese, hier befinde sich das größte Computermuseum der Welt. – Hier? Echt? – Fürchtet Elektronik nicht Zauberwasser und Weihwasser gleichermaßen?
Trotz oder ob meiner Zweifel, freue ich mich : Das hatte ich nicht erwartet, und was verblüfft, belebt, denn das Einzige, das einen sicher erwar-tet, ist der Tod, und umso erfreulicher also, wenn einem Unerwartetes den Weg verstellt.
Ich betrete das trotz des vielen verbauten Glases undurchsichtige Gebäude, und sehe, man wirbt für eine Sonderausstellung: Universalübersetzer – der Traum, dass jeder jeden versteht.
Die Studentin an der Kasse sagt: Wollen sie einen Audioguide?
Was das sei? sage ich.
Das, sagt sie, ist ein gesprochener Kommentar, der leite, begleite mich durch die Ausstellung, allerdings nicht, wie andernorts, schnöde aus der Konserve, sondern inklusive interaktiver sozialkultureller Komponente, solle heißen, mir werde eine des Deutschen nicht mächtige Asylbewerberin zugeteilt, und ein Übersetzungscomputer verdolmetsche alles Gesagte. Diese Woche, sagt sie, haben wir Albanisch im Angebot – eine ziemlich seltene Sprache, das heißt, sie bekommen als Führerin eine Albanerin. Führungsaufgaben oblägen hier allein Frauen. Das sei Programm, denn so wolle man gegen das Klischee ankämpfen, Frauen und Technik passten nicht zusammen – und ausländische Frauen würden in dieser Hinsicht ja doppelt diskriminiert.
Sie sieht mir in die Augen, sagt: … und dagegen wollen wir ein Zeichen setzen, ein Fanal.
Da sich ein Fanal zu einem Zeichen verhält, wie ein Feuerwerk zu einer Wunderkerze, kostet mich die Sache fünfzig Taler. Das, sagt sie, sei der Stundenpreis, Getränke nicht inklusive. Bei Überziehung werde ein Aufschlag fällig. Ich erhalte Kopfhörer, Mikrophon sowie eine Chipkarte, die ich durch den Schlitz neben dem Eingang ziehen muss. Alles andere als lautlos gleitet die Tür auf, und vor mir steht eine kleine Frau, stämmig, schwarzes Haar, Dutt, vielleicht 30 Jahre.
Bevor wir losgehen, steckt sie mir einen Aufkleber an die Jacke – die deutschen Farben, darauf ein D. Sie selbst trägt einen in rot-schwarz, AL, und dazu ein Namensschild: Shpresa.
Sie öffnet den Mund: Guten Tag, sagt mein Kopfhörer, ich bin die Hoffnung.
Ich nicke, und die Computerstimme sagt: Ich werde den guten Herrn nun durch die Exposition führen, bitte.
Wir gehen los.
Das, sagt die Stimme, ist ein Abakus – und richtig, an dem ausgestellten Gerät mit den Perlenschnüren befindet sich ein Schildchen: Sog. Abakus, China (750)
Das nächste Exponat hat ein Leck: Eine Flüssigkeit tropft heraus. Die Stimme sagt: Das ist ein Wasserdieb. Das Schildchen sagt: Klepshydra, Griechenland (300 v.u.Z.)
Ich will mir diese Apparatur ihres merkwürdigen Namens wegen gern genauer ansehen, sie aber hat es eilig und winkt. Ich folge und es folgen in immer rascher werdender Abfolge:
– Zahlenbuch von Mann-Gigant : Rechenbuch, Adam Riese (1522)
– Stromschädel : Elektronengehirn (1945)
– Türkisfarbener Kaiser : Schachtürke (1775)
– Weltumspannender Fährmann : Universalübersetzer (2167)
… ein Taschenkamm schließlich entpuppt sich als Taschenrechner – aber hier gilt es das Übersetzungsprogramm in Schutz zu nehmen, denn auch auf dem Schildchen an der Vitrine steht: Taschenrecher.
Immer sprunghafter wird mein Guide – eine Fehlfunktion, eventuell? – mehr und mehr Exponate werden übersprungen, und schließlich wuselt Frau Hoffnung durch die Säle als seien sie Sätze ohne Punkt und Komma.
Als ich murre, sagt sie, ich könne sie einladen, ins Museumscafé, zu Sekt und Eiskrem, zuvor aber … und sie verschwindet durch eine Tür auf der blinkt ein Strichmädchen erst grün, dann rot.
Ich nutze die Gelegenheit, sage in Gedanken: Adieu, und so, auf französisch, verabschiede ich mich aus Babylon.

Auf dem Rückweg kaufe ich an einem Kiosk eine Flasche Apfelschorle. Es ist heiß geworden, und schnell habe ich den halben Liter in mich hineingeschüttet. Eben will ich die Flasche wegwerfen, da fallen mir die Quellen ein.
An dem Bassin, da, wo das Paderwasser aufsteigt, knie ich mich auf die in Stein gefasste Umrandung. Das schmerzt, doch etwas in mir ist stärker – ists mein Interesse? meine Eitelkeit?
Ich beiße die Zähne zusammen, schraube die Flasche auf und tunke sie halb ein, ohne dabei, den Worten der Azubine eingedenk, meine Hand zu benetzen. Es wird zwar nicht funktionieren, sage ich mir, aber schadets? Nein, und einen Restglauben soll man sich stets bewahren, und sei es nur, um die Welt dann und wann anders zu sehen und, für den Fall der Fälle, dem Mirakel ein Türchen offen stehen zu lassen.
Die zu drei Vierteln gefüllte Flasche schraube ich fest zu und dann verstaue ich sie im Rucksack. Einen letzten Blick werfe ich ins Wasser. Mein Spiegelbild sieht mir entgegen – es hat grüne Blattern : Entengrütze. Bei den Enten selbst scheint das Paderwasser nicht zu wirken. Aber wer weiß, sie fetten ihr Federkleid täglich ein.

Am nächsten Tag, im Zug, krame ich im Rucksack und stoße auf die Flasche. Wie ich sie hervorziehe, ist sie dunkelbraun. Ich schaue näher hin, schüttle sie. Die Flasche enthält keine Flüssigkeit, dafür ist sie gefüllt mit dunklem Gewölle. Ich halte sie gegens Licht. Meine Sitznachbarin sieht erst angeekelt weg, dann heimlich hin. Das Licht lässt einen seidigen Schimmer im Flascheninnern aufscheinen. Kein Zweifel, ein Haar muss in meinem Wasser gewesen sein.

Das Cover des Buchs "Was die Städte sagen. Ein Roman in 25 Orten" von Martin Bartholmy

Martin Bartholmy: Was die Städte sagen. Ein Roman in 25 Orten
Hinterland House Press 2022
360 Seiten, 18,- €
ISBN: 978-3-7562-9487-9