Geschichte

Pferdepost und andere Karten

… und dann, sagt Schermau, dann ist dir ein Licht aufgegangen?
Nein, nein, sagt Hollustek: Das Licht, das war später. Ich würde es einen Schimmer nennen, ein …
Gestatten? … und da die Herren sitzen bleiben, zieht sie den Stuhl vom Tisch, wobei die Metallbeine, ihrer durchgeschabten Gummikappen wegen, über den Waschbeton schrappen.
Gesine, sagt Schermau und schiebt ihr die Postkarte hin: Sag, was siehst du da? Als Frau?
Ich, lieber Heinrich, sagt sie, ich sehe ein Pony – um genau zu sein, ein Shetlandpony.
Wie, sagt Hollustek, ich denke du bist Geografin. Was weißt du von Pferden?
Frau Schermau schüttelt den Kopf, sagt: Ich bin Pensionärin, erstens, und zweitens ist das kinderleicht. – Sie pfeift vierfingrig, und aus dem Garten rennt ein Mädchen auf die Terrasse und hin zu ihrem Tisch. Der zeigt sie die Postkarte und sagt: Was, Mila, siehst du da? Und die Enkelin sagt: Ist ja wohl voll das Shetlandpony. Ist mir aber zu strubbelig. – Weg ist sie. Hinter Büschen schwingt an der Kastanie das gelbe Seil und mehrere Stimmen kreischen.
Naa gut, sagt Hollustek: Hätten wir das auch geklärt. Das alte Klischee von wegen Mädchen und Pferde, es lebt und es gedeiht.

… aber, ich hatte euch unterbrochen, sagt Gesine, und zu Hollustek: Du, Walter, wolltest etwas erzählen?

Also versucht Hollustek den Faden aufzunehmen, muss aber zurückspulen, andernfalls verstünde Frau Schermau Bahnhof: Die Fahrt nach Bad Hersfeld, wo in historischem Gemäuer mit großem Brimborium diese Fernsehschau aufgezeichnet wurde: Cash für Trash, so ein Amiformat, und er dorthin, hatte er doch bei der Auflösung des Haushalts seines Schwagers unter Kubikmetern unglaublichsten Mülls ein altes, hübsches Reiseschreibpult gefunden, darauf der Name eines Vorfahrens seiner Frau : Albert Edler von Behaim-Greifenegg – und dadurch sei ihm die Erinnerung gekommen, wie seine Frau immer behauptet habe, jener Albert sei ein Spezl vom Mahler gewesen – ja, dem Gustav – und in seinem Nachlass befänden sich wahre Schätze : Briefe, Fotos, Partituren …
Die Margarethe und der Mahler, sagt Frau Schermau und seufzt: Davon hat sie mir nie erzählt … und sie war ja auch mehr für Schönberg.
Aber, sagt ihr Mann, erzähl doch jetzt das von dem Experten.
Ja, sagt Hollustek, also Hin und Her und Gedränge, und er habe bereits wieder gehen wollen, da sei er in einem Winkel auf diesen Stand gestoßen: Ich bringe ihre Dokumente zum Reden! Der Herr hinter dem Stand, ein Mitdreißiger in alpenländischer Tracht, habe sich vorgestellt als Fredi Zeisl, ihm unterm Siegel der Verschwiegenheit auch seinen Adelsnamen gesteckt – den dürfe er nicht führen, das stünde unter Strafe in Österreich, weshalb er hier pseudonym auftrete –, und dann habe er ihm das Prinzip seiner Methode erklärt, seiner Methode : nämlich dem Auskultieren von Bildern.
Der Österreich-Connection wegen habe er Vertrauen zu dem Mann gefasst, ihm von der Familie seiner Frau erzählt, von Mahler, und gemeinsam hätten sie den Inhalt des Pults gesichtet.
Die Fotos, die Fotos, sagt Heinrich, der all das bereits gehört hat.
Ja, die Fotos, greift Hollustek den Faden auf. Die Methode des Herrn Zeisl bestände darin, Fotos zum Reden zu bringen. Bei Stummfilmen, das sei bekannt, könne man lange schon anhand gewisser Schwingungen im Bild den historischen Ton rekonstruieren – nur in der Praxis tue mans kaum, denn das Ergebnis sei in der Regel peinlich oder zumindest banal, denn damit, dass in ferner Zukunft einmal einer lauschen würde, konnte damals natürlich keiner rechnen. Mit neuester Rechenpower sei es nun aber sogar möglich, aus Standbildern – aus Fotos – Ton zu saugen, nur müsse man die Bilder vorab auf sogenannte schwingungsaffine Objekte prüfen – denn wo nichts schwingen könne, schwinge auch nichts mit, logisch.
Da! Heinrich trommelt mit dem Finger auf die Postkarte: Zwei Kürbisflaschen trägt das Pony, Die Frau zur Linken hält einen großen Krug und die zur Rechten trägt auf der Kraxe eine Kruke. – Quasi ideale Perkussion!
Genau, bestätigt Hollustek: Zudem deute vieles darauf hin, dass die Karte den Schlüssel berge. Die Marke sei abgerissen – Zufall? –, vom Stempel nur ein verschmierter Rest zu sehen, die Bildbeschreibung ausgekratzt, Anschrift keine auszumachen. Und im Textfeld steht nur das:
Er schiebt die Karte zu Gesine. Die setzt die Brille auf und liest: Low – Smith – Snow. – Ja, sagt sie, schlicht ist das, schlicht jedoch opak.
Herr Zeisl jedenfalls, sagt Hollustek, habe mit seinen Instrumenten das Bild auskultiert und gewisse spätromantische Töne daraus hervorgesaugt. Aber, habe Zeisl gesagt, unter Feldbedingungen und bloß mit Handhelds sei da freilich wenig zu machen. Das Bild müsse ins Labor zur Tiefenanalyse. Zu diesem Zweck habe er es abfotografiert und sich wenige Tage später gemeldet – hiermit:
Hollustek legt sein Telefon auf den Tisch, drückt Play – eine Sirene heult, zu sehen ist der Sonne wegen nichts.
Die Terrassentür klackt – Milas Mutter. Sie sagt: Wo ist meine Tochter?
Drei Hände weisen in die Tiefe des Gartens.
Milas Mutter sagt: So schön möchte ich es auch einmal haben – den lieben langen Tag Handyvideos gucken! Und sie verschwindet hinter der Hecke.
Die drei rücken zusammen, beugen sich übers Gerät, und noch einmal startet Hollustek den Film, tippt aufs Display und sagt: … das, das ist der Zeisl.
Nun aber ist der Ton nicht zu hören, denn Mila schreit, und schreiend zieht ihre Mutter sie ins Haus.
Das Riesenrad. – Im Zwinger, sagt Heinrich, und Gesine sagt: … im Prater! Und Walter sagt: Genau.
Die Hintergründe wechseln. Warum denn? sagt Gesine, und Walter sagt: … der will uns sein schönes Wien zeigen. Ist doch nett.
Zeisl, vor Dom, Staatsoper, Sezession, Burgtheater, Hofburg und Hundertwasserhaus präsentiert Resultate: Die Schwingungen des Bilds, habe sich gezeigt, enthielten Fragmente – wenn nicht noch mehr – Fragmente eines Opus magnum von Mahler, einer symphonischen Dichtung über Edgar Allan Poes Roman Arthur Gordon Pym, so viel habe er entschlüsseln können, und mit den richtigen Mitteln, ließe sich noch viel mehr, ließe sich, zöge man auch die anderen Dokumente heran, vielleicht sogar das ganze unerhörte Werk des Romantic-Superstars rekonstruieren, möglicherweise sogar in high definition. Die Investitionen in ein solches Unterfangen, zugegebenermaßen nicht gering, diese Investitionen würden sich in jedem Fall rentieren, denn sei auch das Mahler-Copyright abgelaufen, lebe dieses, bei von den Toten auferstandenen Werken, wieder auf – und das für 70 Jahre.
… und wir, sagt Schermau, sieht erst fragend in Richtung Hollustek, dann nickend zu seiner Frau, … wir könnten da einsteigen – anteilsmäßig.
Einsteigen ins Riesenrad, sagt sie: Naa-ja.

Am folgenden Montag hängt bei den Schermaus zwar nicht der Haussegen schief, dafür neigt sich in Frau Gesines Arbeitszimmer das Regal für die Handbibliothek gefährlich. Gleich am Morgen ist sie losgegangen, in die Bibliothek. Und zurück kam sie mit einem Einkaufsroller voller Bücher und CDs : Mahler, Poe und Marginalien wie Kreneks Mit dem Shetlandpony vom Skagerrak nach Spitzbergen und Gablers Lost Movies, Lost Worlds.
Denn, sagt sie zu ihrem Mann, wie der ihr hilft, die Ladung ins Haus zu schaffen, … denn vor die Investition hat die Göttin das Studium gesetzt.
Göttin? Welche Göttin?
Athene.
Ach so.
Die Woche über wird gewälzt, gelauscht, und als am Wochenende Hollustek einreitet, ist man bestens präpariert.
Der wartet nicht lang und sagt, gerade dass er sich die Schuhe abtritt: Der Businessplan ist da : vom Zeisl. 50.000 für euch, für mich …
Du meinst für ihn?
Genau. Dafür gehen an uns dann aber die Tantiemen, komplett. Ihm reicht der Ruhm und reicht die Werbung für sein Gerät, seine Methode.

Der graue Tag verrinnt – es regnet, regnet – derweil sie den Businessplan studieren, Seite für Seite. Schermau holt von oben seine Rechenmaschine, die sei zuverlässiger als der moderne Kram, und man geht Tabelle um Tabelle durch, all das untermalt von Mahlermusik und unterbrochen durch Lesungen von Frau Gesine:
… der Mahler, das stimmt allemal, war häufig in Amerika – vielleicht daher der Poe?
… über 90 Prozent der Stummfilme sind verloren, jedoch vermutlich weniger als zehn Prozent aller Tonfilme, wobei diese Zahlen mit Zweifeln behaftet sind, wurde doch eine unbekannte Zahl von stummen Filmen nachträglich zum Reden gebracht …
Poes Pym fuhr auf der Grampus – ist das nicht dieser Kinderschreck aus Österreich
… und hört euch das mal an, der Pym schreibt: … einen Bericht, so minuziös und stimmig, als dass er jenen Anschein der Wahrheit habe, die ihm ja tatsächlich innewohnt, kann ich nicht vorlegen … denn waren doch die erzählten Vorfälle derart wunderbar, dass mir, mangels unabhängiger Belege, keiner, von meiner Familie abgesehen, je würde Glauben schenken …
Tja, sagt Frau Schermau, das ist das Problem. Je unwahrscheinlicher etwas ist, desto wahrscheinlicher ist es wahr – siehe das Schnabeltier –, und Ausnahmen bestätigen die Regel: siehe die Eierlegende Wollmilchsau.
Es klingelt. Milas Vater gibt Mila ab. Er sagt: So schön möchte ich es auch einmal haben – den lieben langen Tag schmökern! Und er verschwindet woher er kam.
Erst mault Mila – sie möchte in den Garten –, aber dann bekommt sie die Ponybücher, und schon hat sie vergessen, dass es einen Garten gibt.
Gesine hält ein Buch hoch: Die letzte Grenze – die Sehnsucht nach dem tiefsten Süden und liest: … bei der Suche nach Australien, der Suche nach dem Kontinent im Süden, war die Vorstellung verbreitet, dass, je weiter man vordringe, auf eine Zone des Eises eine gemäßigte Zone folge, eine Art Paradies auf Erden – vielleicht jedoch ein gefährliches Paradies, siehe Poes Pym …
Wo, sagt Mila, wo ist Shetland? Wo wohnen die Ponys?
Gesine bringt ihr den großen Atlas und zeigt: Da – ganz klein, ganz oben.
Aus der Spielekiste holt sie ein Männchen, einen Würfel und zeigt Mila ein Spiel: In 80 Tagen um die Welt. Du fängst an in Shetland und mit genau 80 Würfen musst du von Insel zu Insel – zum Beispiel so: Färöer – Island – Grönland – und so fort und wieder zurück ans Ziel. Du kannst doch bis 80 zählen?
Klar. Ich kann bis 253 zählen. Bin kein Baby, ich bin acht.

Man studiert weiter. Man telefoniert mit Zeisl. Man guckt in Bücher und ins Netz. Man findet bei sich viele Wissenslücken:
Also, sagt Schermau, wegen dieser Methode von dem Zeisl … Ich weiß nicht … klingt gut, aber vielleicht sollte man doch einen Physiker fragen?
Einen Physiker? Welchen Physiker denn?
Na, so einen richtigen, einen vom Fach.
Du kennst einen Physiker?
Nein, ich dachte, du vielleicht?
Sehe ich so aus, als würde ich Physiker kennen?
Vielleicht, sagt, Hollustek, kommen wir mit dem gesunden Menschenverstand weiter.
Gesund? Du?
Nein, du weißt schon was ich meine.
Gesund bin ich auch nicht, sagt Frau Gesine. Ich halte es mit der Redensart: Schuster, bleib bei deinen Leisten, denn was man jung gelernt, von der Pike auf, das weiß man gewiss.

Omi, sagt Mila, guck mal.
Ja?
Ich bin zurück bei den Poh-nies. Aber anders.
Omi guckt. Omi sagt: Aaaber du bist ja auf einer ganz anderen Seite. Das ist ja nicht die Weltkarte.
Ja, sagt Mila. Die Inseln haben selber Inseln – Inselkinder. Auf der großen Karte sieht man die Inselkinder gar nicht richtig, und auf den andern aber schon.
Schlaues Kind. Gesine guckt. Gesine stutzt. Gesine sagt: Stimmt, Shetlandinseln. Aber andere.
Zu Mila sagt sie: Sehr gut! Ich hol dir ein Eis. Und für sich selbst holt sie das Telefon und tippt und wiegt den Kopf und zoomt zweifingrig in das Bild hinein und lacht und sagt zu Hollustek: Du Walter, bring mir mal die Karte. – Nein, nicht die. Die Postkarte mit dem Pony.
Hollustek holt die Karte aus der Mappe. Gesine dreht sie um, lässt den Kopf wandern zwischen Telefon und Karte, hin und her, lacht und sagt: Sag ichs doch – Schuster, bleib bei deinen Leisten … und zu den Männern sagt sie: Kommt mal her. Seht euch das an … und ich als Geografin …
Über den Tisch gebeugt zeigt sie auf die Postkarte und liest ab: Low – Smith – Snow. Sie zeigt aufs Display – drei Kartoffeln, beschriftet sind sie: Low – Smith – Snow.
… und das ist?
Das sind Inseln, sagt Gesine.
Die Shetlandinseln?
Beinahe. Beinahe und doch so fern. Das sind die Südshetland-Inseln. Die liegen zwischen Feuerland und diesem Schwänzel der Antarktis: Low – Smith und Snow. Es gibt noch mehr davon – und hier, schaut, wie heißt die nächste Insel in der Kette?
Schermau liest ab: Deception – das heißt Täuschung, oder?
Täuschung, sagt Hollustek: Der Ziesl? – Aber die Karte …
Es kommt noch besser, sagt Frau Gesine und schwenkt ein Buch. Hört mal hier: … ist in Wirklichkeit die Bucht der Insel Deception, die täuschend einer Durchfahrt gleicht, der Krater eines kollabierten Vulkans. Dieser ist weiterhin aktiv und die Bucht eisfrei, denn die Wassertemperatur beträgt an die 10 Grad – und sie kann in Schlotnähe auf 40 Grad und mehr ansteigen.
Das heißt, sagt Hollustek, Poe hatte recht?
Poe schon, sagt Frau Gesine.
Und ihr Mann: … aber wenn tote Dichter zu uns reden, und sie reden wahr, warum dann nicht auch Frauen mit Ponys?
… beziehungsweise, sagt seine Frau, warum dann nicht die Männer aus Österreich?

Eine alte Weltkarte, welche den noch unbekannten Südkontinent, die Terra Australis, zeigt. Darauf ein altes Foto eines Paars, händchenhaltend, auf einer künstlichen Insel.

Zu unterschiedlichen Zeiten stellte man sich das unbekannte Land im Süden jeweils anders vor.
(Bilder: Fundsachen; Montage: Martin Bartholmy)