Vorwort
Über Karl Napf, den Verfasser dessen was folgt, ist viel gesagt worden. Das meiste ist bekannt. Ich fasse mich kurz. Das Werk, wie es vorliegt, ist nicht abgeschlossen. Es ist eine famose Ruine – und vielleicht hätte es auch ohne die Wechselfälle von Krankheit und Tod nie einen Abschluss gefunden, denn die Zahl der Städte Deutschlands ist methusalemisch, ist länger als die Kunst, länger als das Leben. Dass der Autor nicht mehr ist, bildet somit ein organisches Ende des Ganzen, und so gibt die Lebenszeit dem Werk Form und Abschluss. Über Napfs Tod und dessen Umstände ist alles gesagt. Vieles stimmt nicht, aber die Leserinnen und Leser sind gewiss in der Lage, sich ihr eigenes Urteil zu bilden.
Nicht alle Geschichten hat Napf gleichermaßen „fertig“ hinterlassen. Von manchen gibt es eine Reinschrift – aber selbst bei diesen lässt sich kaum sagen, ob, ohne das Ende des Verfassers, dies der Endzustand geblieben wäre. Andere, auch diese in Reinschrift, enthalten viele handschriftliche Streichungen, Zusätze, und zudem gibt es Zettel mit ausformulierten Ergänzungen oder auch bloßen Gedanken. Bei wiederum anderen Texten existieren mehrere Rein- und/oder Entwurfsfassungen, und leider sind diese stets undatiert, so dass sich allenfalls mittels Textvergleichs und durch Studium des verwendeten Papiers, der Tinten und Schreibmaschinen etwas über die zeitliche Abfolge zumindest näherungsweise erschließen lässt. Hinzu kommt, einige der Notizen, Zettel und selbst ganze Manuskripte (und vermutlich auch Typoskripte) stammen von anderer Hand, und nicht immer lässt sich sagen, um wessen Hand es sich handelt. All diese Textzeugen zweifelhaften Ursprungs habe ich weitgehend ignoriert (auch wenn Napf sie gelegentlich mit eigenen Anmerkungen versehen hat), und hier ein für alle Mal Licht ins Dunkel zu bringen, wird einer zukünftigen, kritischen Edition überlassen bleiben müssen; aktuell geht es in der vorliegenden Ausgabe zuvörderst um eine Lesbarmachung für eine breites Publikum.
Zum Abschluss des Anfangs einige Worte pro domo: Wie die interessierte Leserschaft weiß, liegt hier nicht der erste Versuch vor, dieses hinterlassene Werk Napfs dem Publikum zu erschließen. Als ich, kurz nach des Autors Tod, die erste Ausgabe zusammenstellte, war ich guter Hoffnung, eine gültige Fassung publizieren zu können, umso mehr, als die Erbin und Nachlassverwalterin, Napfs entfremdete Frau Karin, sich entgegenkommend zeigte und mich zahlreiche Papiere einsehen ließ. Immer wieder hatte ich zwar an der Qualität bestimmter Texte und Passagen Zweifel, schrieb dies jedoch dem unfertigen Zustand des Werks zu.
Erst kürzlich, nach dem Tode von Frau Karin, stellte sich heraus, es hatte sich bei den Texten, die ich jener ersten Ausgabe zugrundelegte, durchaus nicht um Napfens letzte Fassungen gehandelt; vielmehr waren wiederholt ältere Versionen und bloße Entwürfe ein- und untergeschoben worden, und – gravierender noch – in vielen Texten und an zahlreichen Stellen hatte die entfremdete Autorengattin umfangreiche, wohl eigenmächtige Änderungen vorgenommen, bis hin zu Einschüben aus ihrer (oder anderer?) Hand, was ich, da tückischerweise eine von Napfs Schreibmaschinen benutzt worden war, seinerzeit nicht hatte feststellen können, und was nun erst durch penibelste Vergleichsarbeit zutage trat. All dies konnte erst heute und nach Einsicht in sämtliche nachgelassene Papiere geleistet werden, mit dem Ergebnis, dass sich die vorliegende Ausgabe von der ersten nicht bloß im Detail, dass sie sich von ihr ganz grundlegend unterscheidet. Die Leserinnen und Leser können hier nun zum ersten Mal in die Welt eintauchen, wie Napf sie schuf. Willkommen und gute Reise!
Martin Bartholmy
Mystic (Conn.)
September 2021
Martin Bartholmy: Was die Städte sagen. Ein Roman in 25 Orten
Hinterland House Press 2022
360 Seiten, 18,- €
ISBN: 978-3-7562-9487-9
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