Geschichte

Eichen sollst du suchen

Die Barkeeperin bringt das Glas, stellt es vor H. auf die Theke, holt den Eiskübel und stellt ihn daneben. H. hebt zwei Finger. Sie legt den Kopf leicht schräg. H. sagt: Ein zweites Glas, bitte. Dieses wird gebracht und auf der anderen Seite des Kübels platziert. H. öffnet den Mund, aber er trinkt nicht. Er hebt das Glas, bringt es nah an den Mund, öffnet und rundet die Lippen, und vielleicht atmet er so das Aroma ein. Vielleicht ist er erkältet?

H. sagt: Ja. H. sagt: Gut. Er sagt: Ich erzähle ihnen von mir. Ich öffne mich, sozusagen. Nein, nicht ihretwegen, keine Sorge. Es dient in erster Linie der Selbstentfaltung, wenn sie verstehen. Nicht Entblätterung, Entfaltung – das wird oft verwechselt, leider, dabei sind es zwei grundverschiedene Dinge. Das sollte selbstverständlich sein. Der Baum entblättert sich im Herbst. Oder wenn er stirbt. Das ist die eine Seite. Entblättere ich mich, so ist das Verlust und ist äußerlich (wobei das Äußerliche keine Äußerlichkeit ist – die Haut, das wissen sie sicher, ist unser größtes Organ). Entfaltet man sich hingegen, so geschieht dies von innen heraus : dann wächst man, und das ist in der Regel zu begrüßen – doch ist es gefährlich, weiß man vorher ja nicht, wie es ausgehen wird, und nicht selten stellt man fest, muss man feststellen (ist man sich gegenüber ehrlich), man ist sich entwachsen, ist ein ganz Anderer geworden – und das bedeutet, grob gesagt, man ist tot.

Sie werden einwerfen, und vielleicht werfen sie ein: Wie kann das sein? Wäre man tot, wirklich tot, wäre man in der Tat verschieden, so könne man das doch kaum feststellen, es sei denn, man gehe von der schlichten Annahme aus, die Psyche sei ein Engel, der einem in die Karten kiebitze. Aber das meine ich nicht, und ich meine überhaupt nichts Übersinnliches, denn unser Wesen, das was uns ausmacht, liegt im Sinn, den wir ihm geben, wobei natürlich, das gebe ich ihnen nur zu gerne zu, der Austausch mit den anderen, der Austausch mit dem Drumherum eine große Rolle spielt – so wie der Baum erblüht durch den Saft von unten und durch das Licht von oben und durch den eigenen Willen (nennen sies meinetwegen Erbgut), aber dieser Sinn, der sich aus Wiederspiegelung und Wechselspiel ergibt … H. richtet sich auf, drückt die Schultern durch, dreht sich zur Bar und nickt seinem Spiegelbild, das zwischen Flaschen hindurch ihn anblickt, nickt seinem Spiegelbild zu … dieses Wechselspiel, sagt H., diese Wiederspiegelung, sie ergibt sich doch nur dann, wenn sie gebrochen wird – gebrochen durch unsere eigene Sicht, soll heißen, durch unsere eigene Sicht auf uns selbst und durch unsere Sicht jener Sicht, die die anderen auf uns haben – und also entfalten wir uns im Wechselspiel, so wie ich mich ihnen gegenüber entfalte, und stellen wir dabei allerdings fest, dass dieser Sinn in uns oder im Zwischenraum zwischen uns und der Welt gar nicht mehr vorhanden ist, dann – dann sind wir gestorben oder wir sterben in diesem Moment der Einsicht. Etwas in uns stirbt, keine Frage, – und was wäre in uns, wenn nicht wir selbst?

Entschuldigen sie, sagt H. und schwenkt die Arme, ich habe weit ausgeholt. Ich habe mich ihnen nicht aufgedrängt, hoffe ich. – Nein? – Im Gegenteil, sie sagen es, es ist ein stiller Abend, Smalltalk, Höflichkeiten, und mit wem besser, als einem Fremden, könnte man so reden : mit offenem Blatt und ohne versteckte Absichten, und ohne dabei, und sei es unbewusst, alte Rechnungen zu begleichen. – Die Barkeeperin nähert sich, lauscht; sie hört wie H. sagt: … aber abrechnen, abrechnen muss man immer mit sich selbst, nicht mit seinem Nachbarn, nicht mit einem höheren Wesen, das, selbst wenn es es gäbe, Maßstäbe anlegte, die wir nicht begriffen, und die wir nie begreifen können … H., sieht die Barkeeperin, hebt das Glas, kneift ein Auge zu, peilt den Füllstand der Flüssigkeit, stößt mit dem Glas an den Rand des Eiskübels – kling ! – und er nimmt einen Schluck. – H., hört die Barkeeperin, sagt: Aaah! – Theorie, mögen sie sagen, sagt H., und die Barkeeperin entfernt sich, all das, sagt H., könnte man und könnten sie sagen, sei theoretisch und spekulativ und lebensfremd. Aber lebensfremd, frage ich sie? Natürlich, im Leben liegen die Dinge nie so klar, wie ich das eben formuliert habe, und dennoch gelten jene Regeln, die ich eben umrissen habe, nur dass sie überlagert sind und zugemüllt sind von den Wechselfällen und von wirrem Zeugs. Natürlich könnte ich beginnen mit wirrem Zeugs und Wechselfällen und mich von dort aus kommend an das Große und das Ganze heranpirschen – ich könnte, sozusagen, aus der Deckung des Unterholzes, das unser Alltag ist, den Weltenbaum beschleichen … vorausgesetzt, man ist überhaupt in der Lage, den Baum vor lauter Wald zu sehen … Wer weiß. Weiß mans? Denn natürlich könnte ich, sagen wir, sagen: Geboren bin ich da und da. Ich tue das und das. Und sie fragen nach. Sie interessieren sich. Sie suchen Anknüpfungspunkte und sie stellen Fragen, vielleicht, vielleicht sogar Fragen, die über die Regeln des Plauderns hinausgehen, und im Austausch, im Wechselspiel kommen wir dem Leben … ich weiß nicht … : Auf die Schliche? Sagt man so? Und – kann das funktionieren? Na gut, sage ich, Vorschlag zur Güte, versuchen wir es, versuchen wirs. Ich erzähle, und ich versuche, mich an die Fakten zu halten, das Greifbare – an die Realien.

Geboren wurde ich in Gent. Beziehungsweise, der Klarheit halber, geboren wurde ich in Ghent. Die Schreibung, der Klang erspart Nachfragen, merkt man doch gleich: Am Wortanfang ein GH (wie in Ghetto), das ist im Ausland, genauer, das ist in Belgien, in Flandern. Aber spielt das eine Rolle? Das spielt keine Rolle. Das ist nur ein Fakt, eine Information. Ich bin dort geboren, richtig. Ich habe dort nie gelebt, auch richtig. Ich bin kein Belgier, kein Flame, Benelux ist mir fremd. Es ist einer der Zufälle des Lebens, so wie es spielt, mit seinen Würfeln : vier oder fünf, eins oder sechs oder drei. Das bringt nichts, das führt zu nichts. Das ist beliebig. Das bin nicht ich. Das ist ein Wechselfall, und dieser Fall berührt mich kaum – was heißt kaum? – das berührt mich gar nicht. Ich kann daran nichts ändern … Natürlich, ich könnte lügen. Aber was änderte das? Ich bin ich und Wahrscheinlichkeitsrechnung ist Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Die Barkeeperin nähert sich, Kopf schräg; sie hält die flache Hand in H.s Richtung und macht auf der Handfläche mit gedachtem Stift eine Schreibbewegung. H. zeigt ihr die Handfläche und schüttelt den Kopf. Dann, als bemerke er es zum ersten Mal, sieht er auf das noch fast volle Glas vor ihm. Er streckt die Hand aus, greift es, und er führt das Glas zum Mund, nimmt einen kleinen Schluck, lässt die Flüssigkeit von Wange zu Wange wandern.

Eine Tür öffnet sich : Lärm, und lärmend zieht hinter H. eine Gruppe vor vier oder fünf, sechs oder drei Personen durch die Bar, hält den Geräuschen nach – Gekicher, Getuschel – kurz inne, und beschließt, so scheint es, hier nicht zu verweilen und einen anderen, weniger stillen Ort aufzusuchen.

H., die Hand am Glas, dreht dieses, kippt es leicht nach vorne, nach hinten. Dann lässt er es wieder los und sagt: Nach meiner Geburt in Genf … – ja, ich wollte sehen, ob sie zuhören … nach meiner Geburt, also an die Jahre danach, erinnere ich mich nicht, eigentlich. Beziehungsweise, das ist schwer zu sagen. Mir wurde davon berichtet, und es gibt Fotos, und die Fotos und die Berichte, aber vor allem, denke ich die Fotos, haben meine Erinnerung, so es sie überhaupt gab, zugedeckt und zerstört. – Vielleicht. So stelle ich mir das vor. Und jedenfalls, ich bilde mir ein, dass es solche Erinnerungen einmal gab – denn ist man ohne Erinnerungsvermögen ein Mensch? … was allerdings zu der Frage führen könnte, ab welchem Lebensalter man als Mensch anzusehen ist … was uns aber von der Frage, die mich hier interessiert, ablenkt, nämlich der Frage, warum ich den Verlust dieser Erinnerungen (so es sie gab) wünschenswert finde – und zwar nicht etwa wünschenswert, weil es schlimme Erinnerungen gewesen wären (ich weiß ja, wie gesagt, gar nicht, was für Erinnerungen es waren), sondern wünschenswert, weil ich gerne glauben will, dass ich solche Erinnerungen einmal hatte, und diese Erinnerungen nicht weg sind, weil ich sie weggetrunken hätte oder weil ich abgestumpft wäre, sondern, weil mir diese Erinnerungen von einem fremden Faktum – der Fotografie – genommen worden sind, und die Fotografie, wie ein Kunstdieb und Fälscher, die entwendeten Originale ersetzt hat durch Fälschungen, durch Fotos, von denen ich, das versteht sich, nicht einmal sagen kann, wie nahe sie den Originalen kommen, da ich perfiderweise an die Originale ja keine Erinnerung habe. – … und dennoch scheinen diese Fotos zu beweisen, dass es so etwas wie eine Wirklichkeit, an die man sich erinnern könnte, in der Vergangenheit – und zwar in meiner gelebten Vergangenheit – einmal gegeben hat: Hier, sehen sie, ist ein solches Foto. Ich trage es in meiner Brieftasche. Auf der Rückseite dieses Fotos hat eine fremde Hand Ort und Datum notiert: Sehen sie? – Wie? – Wie zu sich selbst sagt H.: Lassen sie mich sehen. Das steht da nicht? … Ah, richtig. Sie haben recht. Jetzt erinnere ich mich. Aber dort hat es einmal gestanden, ich erinnere mich genau. Und diese Erinnerung hat mich vergessen lassen, dass dort nur noch, und lange schon, nichts mehr ist als ein Fleck, Verschmiertes, als Schlieren. Die Reibung, nehme ich an, die Feuchtigkeit der Luft, der Schweiß.

H. hält die Rückseite des Fotos ins Licht der Lampe, die über der Theke schwebt, bewegt es leicht hin und her und lässt das Licht wandern. Etwas, sagt H., ist, glaube ich, noch auszumachen. Das Datum, vermutlich, vier oder fünf, sechs oder drei. – Interessant. Denn natürlich weiß ich, was dort stand … und so frage ich mich, ist da wirklich noch etwas auszumachen oder glaube ich, da sei noch etwas auszumachen, weil ich weiß, was dort einmal geschrieben stand? – H. tippt mit der Seite des Fotos gegen die Kante der Theke, so als überlege er, und vielleicht überlegt er tatsächlich. Er reibt die Lippen gegeneinander, nimmt einen Schluck aus seinem Glas, blickt noch einmal auf das Foto, doch dieses Mal auf die Bildseite. H. sagt: Immer, wenn ich Hartliebs Buche sehe, verstehe ich, warum hier alles begann. – Nicht, dass ich viel von Bäumen verstehe. Buchen von Eichen kann ich unterscheiden, Tannen von Fichten nicht, und von Erlen, Ulmen, Pappeln habe ich keine Vorstellung, ich weiß nur, im Winter werden sie kahl. – … und dabei handelt es sich hier um etwas so einfaches, etwas so grundlegendes wie Bäume – jeder kennt sie, jeder kann sie beschreiben, kann sie zeichnen. – Na gut, so ungefähr – so, dass andere erkennen: Das ist ein Baum. Was ich meine ist, das gehört zum Grundwortschatz, das sind Grundbestandteile unserer Welt, und jeder weiß von klein an: Das ist ein Hund und das ist ein Baum. Selbst der Hund weiß es. Allerdings hat mir kürzlich – es war in ähnlichem Rahmen, in einer ganz ähnlichen Umgebung – hat mir eine flüchtige Bekannte, eine, wie sie sagte, Sekundarschullehrerin für Biologie, hatte mir diese Dame also im Gespräch, einem Gespräch welches unserem heute Abend ähnelte, sagte mir jene Dame und erklärte, Bäume an sich gebe es gar nicht, und es handele sich bei ihnen um eine zwar naheliegende und dennoch oder gerade deswegen falsche, fixe Idee. Was sie meine, sagte die Dame, sei – und ich, als Laie, versuche das so genau wie es mir möglich ist wiederzugeben – sie sagte, Bäume stellten keine Klade, Ordnung, Gattung dar – wie immer die Fachleute das genau nennen – und Bäume, sagte sie, seien Pflanzen, soweit richtig, jedoch seien es Pflanzen unverwandter und häufig ganz unterschiedlicher Art, und was sie teilten seien sehr ungefähre Merkmale, welche jedoch auf Nachmacherei zurückgingen – denken sie, sagte sie, an den Dorn und an den Stachel –, und bei dem, was wir Bäume nennen handele es sich um Großpflanzen, um Pflanzen, die beim Kampf um den Platz an der Sonne auf Höhenvorteil setzten – das sei alles –, und sollten sie sich je begegnen, Lärche und Baobab, sie gingen grußlos aneinander vorbei.

H. hält die Vorderseite des Fotos ins Licht der Lampe über der Theke, bewegt es nach links, nach rechts. Es ist alles gut zu erkennen, sagt H. Zwar sind die Grautöne verblasst, aber umso genauer erinnere ich mich an den Fleck, an den Baum und wie ich darunter stand – vielleicht nicht an den Tag, an dem dieses Foto aufgenommen wurde, aber ich bin ja wieder und wieder dort gestanden, öfter noch gesessen. Immer, sagt H., wenn ich Hartliebs Buche sehe, verstehe ich, warum hier alles endete.

H. hält die Rückseite des Fotos ins Licht der Lampe. – Steht hier wirklich etwas, sagt H., hat hier je etwas gestanden – ein Satz, Wort oder Datum, eine vier oder fünf, sechs oder drei? Die Erinnerung, sagt H., die Erinnerung ist Musik, gespielt von einer Band ohne Setlist, ohne Monitor; die Erinnerung, das sind weder Wörter, weder Nummern, Zahlen; die Erinnerung, sie malt nicht nach Zahlen … Die Barkeeperin kommt. Sie legt die Rechnung auf die Theke. H. sieht die Zahlen, sieht ins Portmonnaie. Er sagt: Aufs Zimmer, bitte. Die Nummer kennen sie. – H. steht auf. Sein halbleeres Glas bleibt auf der Theke zurück. Er geht. In einer Hand den Eiskübel, in der anderen das unbenutze Glas.

Eine alte schwarz-weiß-Aufnahme: Eine Frau, ein Mann, ein Baumstumpf, ein Schatten.

Foto: Bearbeitung + Scan Martin Bartholmy (eine Version in hoher Auflösung gibt es hier)