Geschichte

Heiligendamm

Es war ja, was man vielleicht den Sinn ergänzend voranstellen muss – Elena jedenfalls empfielt es mir, wobei ich nicht sicher bin … höre ich da Ironie aus ihrer Stimme, Sarkasmus? Schwer zu sagen. Seit zwei Tagen ist sie heiser – heiser oder erkältet oder beides und jedenfalls verschnupft. Am offenen Fenster hatten wir gesessen, an diesem Freitagabend, als die Sonne uns einen sommerlichen Untergang vorspielte, während es gleichzeitig für die Jahreszeit zu kühl war, deutlich zu kühl, wir aber waren geblendet, und untem im Park probte eine Kapelle für das samstägliche Konzert. Vielleicht dass uns die Musik warm gehalten hat, oder es war die angeregte Unterhaltung, die Schwingung der Stimmbänder, die die Musik zu übertönen hatten, was ihnen auch gelang, denn wir hatten uns viel zu sagen – viel nach den vielen Problemen, die sich nun, Wunder des Ortswechsels, verflüchtigt hatten, und mit ihnen war auch der Krampf von uns abgefallen, wie ein Schal der unbemerkt von den Schultern gleitet, und zwischen uns flogen die Gesten, die Worte leicht und lässig wie Federbälle, welche eine geringe Bewegung des Handgelenks hoch in die Luft steigen lässt, so leicht und hoch, ganz unmöglich scheint es, dass sie sich im Netz verfangen, dass sie je wieder den Boden berühren.

Später, der Zimmerkellner, Backenbart, Fliege, vermutlich Österreicher, ich lasse ihn herein, und der Zimmerkellner schiebt das Tabletttischchen, fragt – und er fragt Elena: Wo darf ichs abstellen? Und als sie nichts sagt, sagt der Zimmerkellner zu ihr: Frieren sie nicht, meine Dame? Sie müssen doch frieren? – und aufs Wort hatte es Elena geschüttelt, ganz plötzlich, hatte sie sich die Arme gerieben, und selbst mir in meiner warmen Jacke wars kalt geworden, schlagartig, und ich habe das Fenster geschlossen und, als genüge das nicht, die dünnen Gardinen und die dicken Vorhänge auch, und zu Elena sage ich: Jetzt, die warme Mahlzeit, die heiße Suppe – komm, aber da war sie schon verschwunden, und wie ich kurze Zeit später nach ihr sehe, liegt sie im Bett, beide Decken über sich und zittert und schläft oder schläft und zittert, und unser beider Nachmahl habe ich dann alleine gegessen, Wein in beide Gläser gefüllt und mit mir angestoßen, auf Elenas Gesundheit, auf meine, auf den geglückten Absprung, den glücklichen Neuanfang – auf uns beide.

Am nächsten Tag gehe ich ins Konzert, solo. Elena isst nicht, spricht nicht, nur einmal, als ich ihr Tee einflöße, sagt sie, wie aus tiefem Traum erwacht: Ich muss schlafen, schlafen, schlafen, weil morgen ist wieder ein Tag, aber ein neuer Tag, und das ist wichtig.
Ich bestelle eine Thermoskanne Tee, Roibusch, und ein paar Flaschen Wasser, zeige ihr die Getränke, mache die Gluck-Gluck-Geste – dabei ist mit meinem Hals alles OK. Sie lächelt, dann verkriecht sie sich, und ich gehe. Beim Pavillion sind Leute, 30, 40, in Klappstühlen, Liegestühlen und an Stehtischchen, die auf dem Rasen wackeln – das Glas muss man festhalten. Die Band, oder ist es die Vorgruppe?, stöpselt an Instrumenten, vielleicht geht es gleich los. An der Rezeption, als wir eincheckten, drückte ein Azubi nicht mir, sondern er drückte Elena ein Faltblatt in die Hand und sagte: Unser neuer Bandstand – der rockt! Und in dem Blatt stand in etwa etwas von Tradition und Innovation und dass man den Musikpavillion aus dem Jahre 1903 historisch-kritisch rekonstuiert habe unter Zuhilfenahme eines Lichtdesigners aus Taiwan und nun blablabla undsoweiter.

Ich steh an meinem Stehtisch, und mein Stehtisch steht bei mir. Da vorne spielen Die Sterne, und hinten trink ich mein Bier. Ich trete dem Tischchen fest auf den Fuß, als Zeichen, es möge das Schwanken unterlassen. Das Tischchen pariert. Fürs Erste. Der Bierspiegel ist mir Wasserwaage.
Leute kommen, Leute gehen, Leute schauen, manche bleiben. Es beginnt zu nieseln. Ein Hoteldiener verteilt Schirme und verteilt Regenhäute. Auf der Bühne knallt es, funkt es, das Licht geht aus, und einer der Musiker lässt die Gitarre fallen (oder ist es der Bass?), und er hält sich die Hand. So still ist es, man hört wie die Nieseltröpfchen das Dach des Pavillions kitzeln.
Dann tritt ein Herr in Anzug auf die Bühne. Er hält ein Megafon und sagt, wegen technischer Probleme gebe es eine kurze Pause – das Wetter, das wetterwendische Wetter – und wegen der Unannehmlichkeiten werde ein Servicemitarbeiter umgehend Verzehrgutscheine verteilen. Er geht, und wie er geht – und mit ihm gehen die Musiker –, kommt ein Putzmann mit Mop und Eimer, winkt ins Publikum, verbeugt sich, dann beginnt er, die Bühne zu moppen, wobei er sich, der seltenen Aufmerksamkeit für sein Tun bewusst, tänzerisch hin- und herbewegt. Dem sehe ich eine Weile zu, beschließe dann – mein Bier ist leer – die Pause zu nutzen und den Park zu erkunden. Beschirmt gehe ich los. Ich folge dem Kiesweg, der aber vermehrt sich, teilt sich einmal, zweimal, dreimal, das dritte Mal gar in drei Richtungen. Eingedenkt der Formel: In Gefahr und höchster Not, bringt der Mittelweg den Tod, nehme ich den linken Weg, und dieser führt mich an den Rand des Waldes, der dunkel und benadelt schlagartig vor mir steht – schlagartig wohl deshalb, weil ich den Schirm gegen den Wind nach vorne abgesenkt hatte, weshalb ich zuerst die Bäume nicht sehe, sondern ich sehe, der Kies endet und der Weg setzt sich fort als Nadelkissen –, und erst dann halte ich an, hebe den Schirm, hebe den Kopf – und immer noch sehe ich die Bäume nicht, geschweige denn den Wald, denn den Wald, die Bäume, selbst den Baum, der mir am nächsten steht, sehe ich nicht, ich bin zu nah, und das Bild entsteht allein im Kopf, sicher unterstützt vom Waldgeruch, der sich durch meine Nase vorarbeitet in den Kopf, und der Kopf hat Waldbilder zur Genüge auf Lager : Laubwald, Nadelwald, Hochwald, Schonung, Sommer- und Winterwald, und der Geruch und der Anblick von Borke vor meiner Nase genügt, um einen großen ganzen Rahmen zu füllen. Was nicht in den Rahmen passt, was aus dem Rahmen fällt ist, dass die Borke zum Teil verborgen liegt unter einem Schild, einem emaillierten Schild, das sich durchs Alter und mehr noch durch mehrere Einschüsse und Abplatzungen und das Aderwerk und den Rost, die sich so breitmachen, der organischen Borke angeglichen hat, weshalb es dem Auge schwerfällt, den Text, beziehungsweise den ehemaligen Text zu rekonstruieren; dennoch hat der Kopf fast umgehend die Textsplitter komplettiert, und er lässt mich auf dem Schild lesen: Im Wald verirren verboten!

Ich verirre mich nicht. Ich folge einfach dem Weg, der ist gut zu erkennen, auch wenn ihn hier und da buntes Laub bedeckt, und er verzweigt sich nicht. Der Weg führt mich zuverlässig zu einer bewachsenen und überwachsenen und bröselnden Mauer und an der Mauer entlang zu einem halben Portal, das mich zahnlos angrinst, denn ohne Scharnier lehnt das Gittertor am Pfosten, an welchem gelb ein Kunststoffschild prangt: Die Kunst der Ruine.
Na gut, denke ich, jedes Ding hat seinen Namen, und ich trete ein, gehe an skelettierten Gewächshäusern vorbei zwischen denen hoch das freigesetzte Gras steht – der Weg aber ist hell, die Ränder wie mit dem Lineal gezogen, der Sand geharkt. Dann die Ruine eines Herrenhauses, nur sieht sie aus, als wäre sie nie ganz, als wäre sie schon als Ruine erbaut worden, und wie ich die schwere, schwarze Holztür aufdrücke, fällt mir aus dem Gebäude das Tageslicht entgegen. Im Inneren des Baus, zwischen gezackten Mauern, steht eine Wellblechbaracke, die Tür offen, Perlenschnüre wiegen sich im Durchgang. Ich streife sie zur Seite, trete ein. Im Inneren des Inneren steht ein einzelner großer Billardtisch und an ihm lehnt ein Mann, Backenbart, Fliege, Queue in der Hand. Er heißt mich Willkommen und er sagt: Grüß sie.
Dann fragt er: Ein Spielchen? Vielleicht auch um Geld? Tausend Taler der Frame.
Was kann mir geschehen? Ich war hessischer Jugendmeister im Karambolage, vor 20 Jahren. – Gut, das stimmt nicht, das ist nicht die ganze Wahrheit: Es war vor 22 Jahren, und aber vermutlich hätte ich meinen Titel verteidigt, sicher hätte ich ihn verteidigt, mehrere Male, wenn nicht die Regularien … das leidige Glückspielverbot … egal, das ist lange her, und ich habe dies Spiel damals aufgegeben, jedoch das Spiel, hat man es einmal richtig beherrscht, dann verlernt man es nur um Weniges, verlernt man es eigentlich nicht, man verliert an Geläufigkeit, an Fluss, aber im Wesenskern bleibt einem die Sache erhalten, steckt sie doch tief im Kern des eigenen Wesens, und verlernen kann man das nicht. Es ist so, wie wenn man viele Jahre nicht Rad gefahren ist und immer, jederzeit losradeln könnte oder nach Jahren vollständiger Abstinenz, wenn man einen Single-Malt-Whisky, noch bevor die Lippen, der Gaumen ihn überhaupt berührt haben, augenblicklich unterscheiden kann von einem Verschnitt.

Er erklärt mir die Regeln, und ich winke ab: Das versteht sich von selbst.
Gut, sagt er, bleibt die Wahl des Obstes. Ich denke, sie stimmen mir zu, als Hausherr habe ich die Wahl. Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht wackle ich auch mit dem Kopf. Was war das? Mir fällt nichts ein. Ich sage nichts. Ich kreide mein Queue und tue, als hätte ich nichts gehört.
Gut, sagt er, dann wähle ich die Avocado. Sie müssen zugeben, mit Orangen, Äpfeln und dergleichen ist es fad. Das ist wie Fußball im Vergleich zu Rugby – viel zu vorhersehbar. Gut, Birnen wären eine prima Alternative, nur leider ist die Birnenzeit beinah vorbei, und Avocados gibt es immer. Zudem ist ihre Schale fester, und die unterschiedlichen Reifegrade sind das Salz in der Suppe des Spiels.
Von unter dem Tisch holt er einen Ring hervor, legt ihn auf die Platte und, indem er einen Hebel umlegt, weitet sich der Ring : Es scheint sich um eine Springform zu handeln. Anschließend belegt er den Tisch mit Avocados, die er aus einem Korb zieht, prüft, verengt und schließt den Ring und nimmt ihn ab. Auf den Anstoßpunkt legt er einen weißen Ball : Steckrübe, sagt er, schwenkt den Arm, und er sagt: Sie beginnen.
Da ich das Spielgerät schlecht einschätzen kann, stoße ich nur mit leichter Kraft. Der weiße Ball aber trifft den Avocadokreis mittig und die Früchte rollen und humpeln davon, eine verschwindet gar hinten links in der Tasche.
Er nimmt sie heraus, zeigt mir den Aufkleber auf der Schale, sagt: Dann also spielen sie Peru, ich spiele Fair Trade.
Mein nächster Stoß geht ins Leere. Er kommt an den Tisch, und er locht drei Bälle. Durch den Freiraum, der so entstanden ist, komme ich besser ins Spiel und bald liegen wir den versenkten Bällen nach Kopf an Kopf. Dann misslingt ihm ein Stoß und ein freier Peru-Ball bleibt direkt vor der Tasche liegen. Ich stoße und spiele die Steckrübe tief an, jedoch zu heftig, will ich doch, dass sie von der Tasche wieder zurückläuft, aber für solche Manöver scheint das Gemüse nicht zu taugen. Meine Avocado wird zur Seite geknockt und an ihrer Statt plumpst der Rübenball in die Tasche.
Zut alors, denke ich und will den Ball aus der Tasche holen und auf den Anstoßpunkt legen. Er aber hebt die Hand und sagt: Nein, das sei gegen die Regeln.
Welche Regeln?
Er zieht ein Heftchen aus der Gesäßtasche, klappt es auf, hält es mir hin und sagt: Hier, Paragraf 14, die lex rutabaga. Ich lese … und tatsächlich, dort steht, eine versenkte Steckrübe werde nicht zurückgelegt und die verbliebenen Bälle seien unvermittelt zu spielen.
Er tritt an den Tisch, tippt ein Fair-Trade-Früchtchen an, und es bewegt sich, kurvt einige Zentimeter, dann bleibt es liegen zwischen Tasche und Peru-Ball. Ich mustere die Lage: In einer Ecke des Tisches liegen unsere beiden letzten Bälle, während am anderen Ende, an der Mitte der Bande, die schwarze Avocado ruht. – Per Bande über Eck? Das lässt sich bei diesen Eiern nicht beherrschen. Aber, was ist die Alternative? Für einen Sprungball ist die Frucht zu weich.
Ich gehe den Bandenstoß an. Berechnen macht keinen Sinn, hier muss ganz das Gefühl übernehmen, man muss die Bahn schmecken, sie riechen. Ich atme ein, halte die Luft an, beuge mich vor, kneife die Augen zusammen, lasse das Bild verschwimmen, und wie ich die Augen entspanne und das Bild wieder in den Brennpunkt springt atme ich aus, und im selben Moment stoße ich zu. Die Frucht kreiselt, kreiselt gegen die Bande, und der Kontakt mit der Bande ändert nicht nur die Bewegungsrichtung, er verändert auch die Art der Bewegung, denn nun rollt meine Avocado über den Tisch und, wie von einer Girlande gezogen, rollt sie auf die gegenüberliegende Tasche zu, in welcher sie auch verschwindet.
Mein Gegner klatscht in die erhobenen Hände: À la bonheur.
Ich gehe um den Tisch, besehe den schwarzen Ball. In der Tat berührt er die Band. Bei einem runden Ball wäre es kein Problem – Bandenroller. Aber so? Ist das Ding krumm, denke ich, führt der krumme Weg pfeilgerad zum Ziel und etwas Drall, denke ich, sollte die krumme Kurve stabilisieren. Aufrecht stehend stoße ich von oben auf den Ball … Was ist das? Ein komisches Gefühl, ein ungutes Geräusch. Ich sehe hin : Der überreife schwarze Ball ist aufgeplatzt und braungrüner Schmodder quillt hervor.
Tja, sehr bedauerlich, sagt mein Gegner. Aber glücklicherweise haben wir ein Tischpflegeset. Er zieht ein Eimerchen hervor.
Wollen sie eine Revanche, fragt er, und ich sage: … ich nehme an, durch dieses Missgeschick habe ich verloren? Lassen sie mich raten – die lex avocado? Er nickt und beginnt den Filz zu säubern.
Für das zweite Spiel lege ich die Bälle auf. Lehrgeld, denke ich, und da ich mich nun sicher fühle, da ich das Spiel und seine Handicaps im Griff zu haben glaube, erhöhen wir den Einsatz, denn im Leben springt man nicht zweimal in den gleichen Bach.

In dunkler Nacht gehe ich durch den Wald, über mir der gestirnte Himmel, unter mir das Nadelkissen. Am dünnen Stöckchen trage ich meine Laterne, ein gebeutelter, verknautschter Eimer aus Papier, drauf eine Grinsekatze, drin ein Kerzenstummel. So gehe ich, gehe : Rabimmel, Rabammel, Rabumm, und wie meine Kerze erlischt, ist unter meinen Füßen heller Kies, und ich sehe nach oben – der Mond lacht mich voll aus –, und hinten entsteigt der Dunkelheit das Hotel, Lichter entlang der Terrasse, aber die Fenster sind schwarz.
Kleines Gepäck, denke ich, denn anders fällt es auf, und das Haus verlassen, so gegen elf, wenn unten am meisten los ist. Und weg. Wenn Elena mitkommt. Weg von hier, in die Ferne, in die Heimat, weg von hier – hier weht kein glücklicher Wind. Etwas Besseres als dieses Leben findest du überall. Gehe nicht über Los, gehe los.

Glasdach mit Bäumen

(Eine Version dieses Bildes in hoher Auflösung findet sich hier).