Martin Bartholmy
Der 4. Juli 1954 – da war doch was? Genau: Deutschland ist Fußball-Weltmeister, zum ersten Mal. Im Wankdorfstadion in Bern fällt nach dem Schlusspfiff Bundespräsident Heuss Kanzler Adenauer um den Hals, auf der Ehrentribüne schunkelt das halbe Kabinett mit Bayerns Ministerpräsident Hoegner (SPD) und Hamburgs Erstem Bürgermeister Sieveking (CDU). Oppositionsführer Ollenhauer, der das Spiel co-kommentiert hat, hält es nicht auf dem Sitz: Er reißt Herbert Zimmermann, der eben sein „Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“ geschrieen hat, den Kopfhörer herunter, und enthemmt schwenkt er ihn durch die Luft, Unverständliches grölend.
Sie haben es bemerkt : etwas stimmt nicht. – Nein, dass Bayern einen SPD-Ministerpräsidenten hatte, ist verbürgt. Allerdings wurde Dr. Hoegner erst im Dezember 1954 ins Amt gewählt, doch ist dieser Fehler vergleichsweise kosmetisch. Was falsch ist: Keiner der Genannten war beim Finale gegen Ungarn vor Ort. Soweit wir wissen, befand sich beim Endspiel der Fußball-WM 1954 nicht ein deutscher Politiker im Stadion.
Unvorstellbar. Was war los? Wie konnte es sein, dass die deutsche Politik 1954 den Fußball links liegen ließ – zudem die WM im Nachbarland stattfand?
Den meisten Politikern war Fußball damals egal – es war ein Vergnügen der einfachen Leute, mit dem ein Lenker und Staatsmann, wie volksnah er sich sonst auch gab, wenig zu tun haben wollte. Selbst die Fußballanhänger unter den Politikern, und die gab es, wussten, öffentlich den Fußballverrückten zu geben, ist Stand und Würde eines Politikers nicht angemessen – so wenig wie es heute einem Chefarzt einfiele, sich als Wrestling-Fan zu outen.
Politik beschäftigte sich mit Politik: Kalter Krieg, Westintegration, Wirtschaftswunder, Aufbau, Eingliederung der Umsiedler. Wie wenig Politiker 1954 mit dem sportlichen Erfolg anfangen konnten, zeigen die linkischen Worte, mit denen Theodor Heuss die Mannschaft in Berlin begrüßte:
Sie erwarten und sie kriegen von mir heute keine politische Versammlung. Wir sind wegen des Sports da. Ich glaube wir sollten ihn außerhalb der Politik halten, aber wir sind nun auch hier, um die Weltmeister im Fußball zu ehren.
Zwar stand Theodor im Fußballtor, der Heuss aber wars nicht. Fußball und Politik mögen sich hier und da berühren, doch im Kern haben die beiden Sphären miteinander soviel zu tun, wie Käsekuchen und Quantenphysik. Ob ein Turnier wie 1934, 1978 oder 2022 in autoritären Staaten stattfindet oder in der Schweiz, den USA oder Frankreich, für die Qualität der Spiele ists egal. Ein Spiel ist ein Spiel. Für Politik, Gesellschaft, soziale Fragen hat es keine Folgen.
Kulturschaffende, kickend
Foto: Martin Bartholmy (eine hochaufgelöste Version gibt es hier).
Auch die These, auf dem Platz würden nationale Gegensätze ausgetragen, ist abwegig. Rivalitäten im Fußball, zum Beispiel zwischen den Niederlanden und Deutschland, zwischen Deutschland und England sind auf dem Rasen entstanden. Fußball hat eigene Traditionen, man sieht es an den Fan-Feindschaften. Zwar lässt sich die Verachtung welche Fans von BFC Dynamo und 1. FC Union einander entgegenbringen von politischen Umständen herleiten. Aber selbst in den seltenen Fällen, in denen Politik fußballerische Gegnerschaft mit angestoßen hat, gewinnt ein solches Moment eine rituelle Eigendynamik und löst sich von der Politik ganz ab. Die meisten Fan-Feindschaften gehen entweder auf lokale Reibereien zurück (Schalke – Dortmund) oder sind – kaum jemand kann sich an den Ursprung erinnern – auf eine sportliche Legende gegründet, wie die Abneigung zwischen Hertha- und Schalke-Fans.
Ein Frühling macht noch keine Schwalbe
Es könnte so einfach sein. Man interessiert sich für Fußball oder Fußball ist einem egal – Geschmackssache, Gewohnheit. Man mag einen Verein, weil Spieler, weil Erfolge begeistert haben. Oder man ist Fan, weil Familie und Freunde es sind, man in der Region lebt und die Leidenschaft mit anderen teilen möchte.
Ist das alles, Fußball wäre Thema im Sportteil, für Vereine und Fans. So war es einmal. Seit zirka den 1990er Jahren aber hat Fußball seine Grenzen überschritten, und immer öfter kommen Politiker ins Stadion – nicht privat, sondern als Gratulanten, als Interviewte –, und die wirtschaftliche Krise eines Vereins, die sportliche Krise der Nationalmannschaft, die Frage der Übertragungsrechte wird von der Politik zur Chefsache erklärt.
Zwar erscheinen Politiker gern dort, wo Menschen, wo Kameras sind, und hoffen, der Ruhm eines Stars könne durch Nähe auf sie abfärben. Auch Hochkultur und Wissenschaft, die lange den Sport ignorierten oder ihn bestenfalls kulturkritisch als Distinktionsmasse brauchen konnten, beschäftigen sich seit einiger Zeit ernsthaft mit Fußball. Unter Fußballbüchern, früher leicht als heftig bebilderte Fanartikel auszumachen, findet man heute Essaybände, wissenschaftliche Monografien. Fußball und Kultur haben in der „Fußballkultur“ zueinandergefunden.
Das Phänomen zeigt sich auch in anderen Teilen der Popkultur. Dabei hat Fußball heute nicht mehr Antworten auf politische Fragen, als vor 30 Jahren. An Deutungskraft verloren hat die Politik. Ihre schweren Zeichen, Rechts und Links, sind abgesunken, sind nur noch schattenhafte Floskeln. Diedrich Diederichsen erinnert sich an einen Punkt in den 1970er Jahren: Die politischen Bewegungen, parlamentarisch wie außerparlamentarisch, hatten sich totgelaufen, und subversiv, subkulturell, auf Droge versuchte man, Neues zu finden, und auf LSD schien jede abseitige Assoziation zulässig … bis auf: Bis auf den Moment, als ihn im Rausch plötzlich interessierte, wie der HSV gespielt hat. Fußball? Ernsthaft? – Das ging jetzt wirklich zu weit. Er hatte, da war sich Diederichsen sicher, den Verstand verloren.
Wenig später, wir sind in den 1980er Jahren, versuchte die politisch-kulturell sich irgendwie links fühlende Bohème Die Emphatisierung des Banalen, soll heißen, alltägliches Zeugs mit Bedeutung aufzuladen, und draus ein neues, subversives Ding zu machen. Ist die Mitte tot und sind die alten Spektren in sie kollabiert wie in einen Neutronenstern, vielleicht lässt sich dann an der Peripherie, in anderen Dimensionen neues Leben finden?
Nicht lange, und der Mainstream merkte, wie prima der Verlust der alten Zeichen kompensiert werden kann, verlegt man sich auf popkulturelles Gebiet. Nicht nur gelang es, sich so im Sinne eines Generationenprojekts von den Erklärungen der Alten abzuheben, man wahrte auch die Erklärungshoheit der eigenen Kaste. Ein typisches Beispiel ist Helmut Böttigers oft zitierter Satz vom Gegensatz Bayern München – Borussia Mönchengladbach:
Gladbach und Bayern: Hier standen sich zwei Optionen gegenüber, die in den wenigen Jahren nach 1968, als wirklich Bewegung in die bundesdeutschen Strukturen kam, um die Vorherrschaft rangen – Radikalität oder Nüchternheit, Reform oder Pragmatismus, Utopie oder Funktionalität.
Auch Andrei Markovits Diktum, der Arbeitersport Fußball habe sich in den USA nie durchgesetzt, da dort eine Arbeiterbewegung gefehlt habe, gehört in diese Kategorie. Beides – man kann es sich heute kaum vorstellen – war in den 1980er Jahren geistreich: Ernsthafte Intellektuelle beschäftigen sich mit Fußball, wow! In der Folge – auch das zuvor undenkbar –, outeten sich viele Studenten als Fußballfans : Fußball war subversiv und cool.
Der Haken: Sätze wie die von Markovits, von Böttiger verblüfften, weil sie waren neu. Besieht man sie heute, verblüfft ihr Mangel an Substanz. Was war, außer Günter Netzers Frisur, an Gladbach anti-autoritär? Hennes Weisweiler nicht. Und in den USA gab es sehr wohl eine Arbeiterbewegung, nur war der Arbeitersport Baseball.
Warum heute Fußball im Zentrum steht – Klaus Theweleit weiß eine Antwort:
Wo ist der Zusammenhang zwischen 50% Wahlbeteiligung und 100% Fußballgequassel? (…) Monika, meiner Frau (…) fällt auf, dass mit dem Einreißen der Berliner Mauer und dem Untergang der alten Ostblockgesellschaften vielen Menschen hier ein geistiges Betätigungsfeld oder auch theoretisches Spielfeld genommen wurde, das, aus welchen merkwürdigen Gründen auch immer, durch eine ungeheure Menge öffentlichen Fußballs ersetzt wird. (…) Er stopft offensichtlich gewisse Löcher. Die unübersehbare Intellektualisierung der Fußballzuwendung würde für diese These sprechen. Kannten sich die Leute vor drei Jahrzehnten noch bestens in den diversen chinesischen Wegen zur Revolution aus, kommentieren sie heute versiert die Verschiebungen der fußballerischen Gemengelage. Zidane wäre dann so etwas wie der aktualisierte Lenin, ein unverfänglicherer zumal. Die Diskussion über Pressing und Verschieben wären die Diskussionen des „richtigen Moments“ des richtigen politischen Handelns. (Während man die Politiker ihren Murks, an dem man doch nichts ändern kann, machen lässt.)
Den Fußball mit Füßen treten
Die Sicht auf den Fußball ist die eine Seite. Die andere: Der Fußball selbst begreift sich heute als gesellschaftlichen Akteur. Seit Beginn der 1990er Jahre hat der DFB seine außersportlichen Aktivitäten ausgedehnt. Unter Egidius Braun wurde die „dritte Säule der Verbandsarbeit“ immer wichtiger. Der DFB versteht darunter Hilfe für arme Länder, Katastrophenhilfe und Kampagnen wie „Keine Macht den Drogen“ sowie gegen Gewalt und Rassismus.
Der DFB-Bundestag 1995 stand unter dem Motto „Fußball in unserer Gesellschaft – mehr als ein 1:0“. Darin, so der DFB, drücke sich „das Wissen um die soziale Verantwortung eines Verbandes aus, der mit seinen über 6,3 Millionen Mitgliedern eine wichtige Kraft in unserer Gesellschaft darstellt.“ Weiter hieß es:
Fußball ist als Teil unserer Gesellschaft untrennbar mit ihrer Entwicklung verbunden, damit aber auch mit den jeweiligen Fehlentwicklungen, Gegensätzen und Konflikten konfrontiert.
Die Profi-Vereinigung Deutsche Fußball-Liga (DFL) erklärte 2002: „Wir müssen gesellschaftspolitisch mehr Anerkennung finden“ – was konkret durch verstärktes soziales Engagement der Profivereine geschehen soll.
Ist es nicht erfreulich, wenn Fußballvereine gegen Rassismus und für Entwicklungshilfe einstehen? Anders gefragt: Ist es nicht schön, wenn bei Olympia Pastorinnen in rhythmischer Sportgymnastik antreten und Ethiklehrer im Biathlon ihr Können zeigen? Soll Sport mehr sein, als er selbst, soll er sinnstiftend wirken, Werte vermitteln? Kann er das?
Sport, der sich fremden Aspekten unterordnet, verbiegt sich und es droht Meniskusriss. Ähnlich ist es mit Kunst und Kultur. Nichts gegen Freizeitkicks in Favelas, gegen Theaterworkshops für straffällig gewordene Jugendliche – so lange die Resultate pädagogischer Bemühungen nicht mit Leistungssport, mit Kunst verwechselt werden. Spitzensport und Kunst sind elitär; es geht um Höchstleitungen, um Dinge, die nur die Allerwenigsten schaffen.
Wer würde die Hobbymannschaft des Parlaments, den FC Bundestag, zur Fußball-WM schicken? Absurde Frage. Gleichermaßen widersinnig ist es, wenn Fußballer und Funktionäre Politik machen. Besser, der DFB professionalisierte die Nachwuchsförderung weiter und brächte Vereine wie Nationalmannschaften voran.
Der DFB betont, sein soziales Engagement sei nicht neu, es reiche Jahrzehnte zurück. Wirklich? Früher leistete man Nothilfe für Mitglieder, unterstützte Sportinvaliden – Dinge, eng verbunden mit den Aufgaben der Vereine und Verbände. Woher in neuerer Zeit der Drive, sich gesellschaftspolitisch zu positionieren? Ist der Fußball über sich hinaus gewachsen, größer geworden, als das sportliche Spektakel? Dafür spräche die gewaltige Medienpräsenz des Sports. Doch es ist umgekehrt: Geschrumpft ist die Politik, und der Fußball soll die Leerstelle füllen. Statt Utopien, statt politischer Programme, mit denen sich viele identifizieren, gibt es Großereignisse, die für den Moment das Gefühl erzeugen, man sei Teil eines größeren Ganzen.
Die alten politischen Bewegungen und Massenorganisationen sind baufällig und zerbröseln. Auf der Suche nach dem großen Publikum gehen Deutschlands leitende Angestellte in die Sport- und Kulturarenen. Ihre Stammwähler haben sich verflüchtigt und die Veranstaltungen, auf denen man sie früher traf – Gewerkschafts- und Kirchentage, Versammlungen der Vertriebenen und Sozialverbände – gibt es zwar noch, doch ihre Bedeutung ist futsch. Nach dem Ende der politischen Lager fischen Politiker im Trüben, im Allgemeinen. Und was wäre allgemeiner als Fußball? Einen Ball treten kann jeder und der Ball beliebig die Richtung ändern.
Wenn wenig gewiss ist, muss sich, dort wo viele sind, irgendeine Wahrheit finden lassen, oder? Eine Milliarde Fußballfans können nicht irren. Ein Zeitvertreib, der den geistigen und politischen Spitzen vormals als unkultiviert und grob galt, ist so zu einem Feld geworden, auf dem sie zu bestimmen versuchen, was Gesellschaft ist und was sie sein sollte.
Die Folge sind Kampagnen wie „Keine Macht den Drogen“ und Spiele für gute Zwecke. Wer, außer Schülern, die dafür schulfrei bekommen, geht zu Benefizspielen? Ein Länder-Kick, 1998 gegen Luxemburg, stand unter dem Motto „Kinder stark machen“. Welches Kind wird dadurch stark? Wie soll das überhaupt gehen? Bessere Nachwuchsarbeit kann Kinder stärken, indem sie ihnen erlaubt, sportlich zu zeigen, was sie können. Mehr Slogans tun das nicht. Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gespielt.
„Ein Scherenschlag, so elegant, wie ein Gedicht von Goethe“
Von Fußballern wird heute nicht nur erwartet, dass sie gut spielen, sie sollen Vorbilder sein, moralische Leuchten. Jens Lehmanns „Ausraster“ (2002, ein Tritt, den der Schiedsrichter nicht sah), war Anlass für eine breite Diskussion, und im Fernsehen musste Lehmann wiederholt Abbitte leisten und beteuern, „Gewalt“ sei für ihn keine Lösung. MSV-Trainer Norbert Meier wurde 2005 nach einem recht harmlosen Kopfstoß vom DFB mit Berufsverbot belegt und von seinem Verein entlassen.
Bekommen Rangeleien gesamtgesellschaftliche Bedeutung, da die Beteiligten Vorbild sein sollen, läuft etwas schief. Zwar darf man von einem Spitzensportler Disziplin erwarten – mit einem Platzverweis schadet er der Mannschaft. Ein role model muss er nicht sein.
Gewalt ist im Fußball selten geworden. Waren brutale Fouls früher die Regel, Fouls, die oft nicht geahndet wurden, haben sich in neuerer Zeit die Regeln und deren Auslegung zum Vorteil der Spielfreude geändert: „Es ist der größte Friedensbeitrag des Fußballs im letzten Jahrzehnt, dass die Sensenspieler verschwinden“ (Klaus Theweleit). Verfolgt man die Diskussion über Zwischenfälle auf dem Platz, könnte man meinen, die Barbarei sei ausgebrochen. Die große Aufmerksamkeit, die Fußball heute erfährt, die Art und Weise, wie er mit Bedeutung aufgeladen wird, macht aus läppischen Zwischenfällen gesellschaftliche Menetekel.
Sollen Fußballer Musterknaben sein, entwertet man ihre sportliche Leistung. Heute gilt: Lieber ein bisschen weniger genial auf dem Platz, wenn dafür der Wahnsinn unterbleibt. Nicht von ungefähr vermissen Fans und Reporter „Persönlichkeiten“, Spieler mit „Charakter“ und „gesundem Eigensinn“. Jeder Fan weiß, welche Glücksgefühle Wahnsinnsspieler wie George Best, Maradona oder Paul Gascoigne auslösen: Schwerkraft, Mathematik, Vernunft – kein Gesetz scheint zu gelten, alles tanzt. Oft waren solche Spieler auch für Exzesse jenseits des Platzes bekannt. Das geht heute kaum mehr. Der Profifußball hat einen so hohen Leistungsstand erreicht, dass zum Beispiel Saufgelage, wie von früheren Turnieren überliefert, unmöglich sind. Um wirkliche Exzesse geht es aber gar nicht: Was von Sportlern gefordert wird, ist Konformismus.
Die Behauptung, Fußball fungiere als Vorbild, hält keiner Überprüfung stand. Die Equipe tricolore, unter Zinedine Zidane Welt- und Europameister, erklärte man zum gelungenen Beispiel für ein multikulturelles Frankreich. Was das multikulturelle Frankreich mit dem Versagen der Mannschaft ab 2002 zu tun hatte, oder wie Krawalle in französischen Vorstädten mit Fußball zusammenhängen, wollte niemand erklären. Kein Wunder – einen direkten Zusammenhang gibt es nicht. Fußball ist weder Vorbild, noch Spiegelbild der Gesellschaft. Fußball ist ein Spiel mit eigenen Regeln.
Das Stadion, eine moralische Anstalt?
Auch die Fans im Stadion stehen im Rampenlicht – als Vorbild für die Fernsehzuschauer. La-Ola-Wellen werden gelobt, Fahnen, Gesänge, Jubel, Trauer auch – so lange sie maßvoll, geschmackvoll sind. Alles, was zu fanatisch scheint, Schlachtrufe, Pyrotechnik, zum Spott gegen türkische Fans erhobene Alditüten (1997 beim Spiel Bayern gegen Besiktas), Frotzeleien wie der Gesang „Wir ham Arbeit, ihr habt keine“ bei Spielen von West- gegen Ostklubs werden als Entgleisung verurteilt. Mehr und mehr sind Stadien rundumüberwachte Benimmkurse – Mitmachbühnen, als moralische Anstalt betrachtet.
Fan kommt von fanatisch. Ohne fanatische Fans geht die Atmosphäre im Stadion hops, wie Vereine merken, die Stehplätze zugunsten von Sitzplätzen und Logen abschaffen. Der Widerspruch lässt sich nicht lösen: Mit der Veredelung der Stadien geht das wilde, authentische Moment verloren, nach dem sich die Kulturträger sehnen, und das sie gleichzeitig fürchten.
Fanbeauftragte sind Sozialarbeiter, die Begeisterung in gesunde Begeisterung verwandeln sollen. Immer häufiger fungieren Fanklubs als Ordnungshüter. Da sie über die Vergabe von Tickets mitentscheiden, ist ihre Macht, ohne dass dies geregelt wäre, gewachsen. Ein falscher Spruch, und man kann auf einer schwarzen Liste landen – und gegen ein Stadionverbot kann man wenig tun. Einige Fanklubs geben Beobachtungen und Namen direkt an die Polizei. Datenschutz? Egal.
Das Stadion wird so zur Probebühne für neue Modelle sozialer Kontrolle. Kritisiert wird das selten. Kritik am modernen Fußball ist fast immer Kommerzkritik. Der Vorwurf, der Sport habe ausverkauft, geht meist an dem vorbei, was modernen Fußball ausmacht. Das Klischee: Fußball sei seelenlos, durchkapitalisiert, verlogen, ein artifizielles Spektakel – Millionarios, Legionäre. Als Gegenbild wird eine Fußball-Vergangenheit beschworen, in der Straßenfußballer, hungrige Kicker, Ruß im Gesicht, mit Herz und Seele alles gaben, für wenig Geld, treu dem Verein, ein Leben lang, bei vollem Einsatz.
Die nostalgische Sicht des Fußballs ist Wunschdenken – ein ziemlich verdrehtes dazu. Der Fußball der 1950er, 1960er Jahre war langsam, statisch, und gespielt wurde mit festen Positionen und geringer taktischer und technischer Raffinesse. Dass Fußballer früher stärker in ihrem Verein verwurzelt waren, stimmt, nur war es keine freie Entscheidung – es gab kaum Alternativen. Die meisten Spieler mussten wohl oder übel bei „ihrem“ Verein bleiben. Solche Zwangsverwurzelung zu echter Hingabe zu stilisieren, ist naiv oder zynisch – ist, als erklärte man einer Professorin, ihre Kenntnisse und ihr Beamtenstatus seien Verrat an der ehrlichen Maloche, die ihre Mutter ein Leben lang im Vorzimmer an der Schreibmaschine geleistet habe.
Früher folgte bei den meisten Fußballprofis auf eine kurze, schlecht bezahlte Karriere ein jahrzehntelanger Lebensabend – als Lottopächter, Kneipenwirt, als „Original“. Selbst heute, bei hohen Gehältern für einige, wenige Berufsspieler, ist es nicht so, dass Profis im Allgemeinen ein lockeres Auskommen hätten. Wenige sind Großverdiener, und auf den Blitzstart einer Karriere folgt sehr oft der Absturz. Die jahrelange, harte Arbeit, der Verzicht auf vieles, was sonst Kindheit, Jugend, Beziehung, Beruf ausmacht, mündet nur für ganz wenige in millionenschweren Vereins- und Werbeverträgen.
Heute geht es im Fußball um viel mehr Geld als früher. Das ist richtig, denn Fußball ist der beliebteste Sport der Welt. Und es ist gut für den Sport, denn nur so können die Kosten für neue Arenen, Trainingscenter, Reha-Kliniken, Fußballschulen aufgebracht werden. Mehr Geld macht das Spiel besser, und die reichsten Vereine der Welt sind auch die besten: Barcelona, Bayern, Chelsea, Manchester, Madrid, Turin. Wer will schon Wormatia Worms sehen?
Als Standortfaktor taugt Fußball wenig. Gelsenkirchen hat die höchste Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet, eine sterbende Stadt, eine Stadt, die von einer Legende lebt: Schalke. Zwar ist Schalke ein wichtiger Arbeitgeber, aber vom Mythos Fußball kann keine Stadt leben. Als gesamtgesellschaftlicher Hoffnungsträger ist der Fußball mit Bedeutung erheblich überladen.
Arm kickt nicht gut
Man kann von Fußballern verlangen, dass sie Vorbilder sind – vorbildliche Fußballer. Was es nicht braucht, sind Fußballer als Vorbild für Konformität, als ethische Allrounder. Fußballprofis können zeigen, dass sich Engagement auf dem Platz auszahlt – hartes Training und Teamgeist –, indem sie erfolgreich spielen.
Fußball sollte vor allem als Sport verstanden werden. Wir leben nicht in einer Gesellschaft, in der für die meisten die Verhältnisse so beschränkt sind, dass die einzige kleine Chance, dem Elend zu entfliehen, darin besteht, alles auf eine Karriere im Profisport zu setzen. Die Verklärung solcher Zwangslagen, sei es in vergangenen Zeiten, sei es in Brasilien, Nigeria, ist billig und zynisch.
Fußball funktioniert in reichen Ländern heute anders – glücklicherweise. Damit wir weiter guten und besseren Fußball sehen, müssen Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, unter besten Bedingungen zu spielen und ihre Fähigkeiten zu entwickeln – um eines Tages vielleicht, vielleicht Profi zu werden. Ein Fußballer, der diesen Weg wählt – einen Weg, der immer hart und riskant ist – der sich durchbeißt und zum Star wird, ist ein Vorbild. Was zählt, ist auf dem Platz.
Tiefer Boden, untiefer Raum
Foto: Martin Bartholmy (eine hochaufgelöste Version gibt es hier)
Literatur:
– Helmut Böttiger: Kein Mann, kein Schuß, kein Tor, C.H.Beck 1993
– Diedrich Diederichsen: Sexbeat. 1972 bis heute, Kiepenheuer & Witsch 1985
– Arthur Heinrich (Hg.): Tooor! Toor! Tor! Vierzig Jahre 3:2, Rotbuch 1994
– Markus Hesselmann, Christopher Young: Der Lieblingsfeind. Deutschland aus der Sicht seiner Fußballrivalen, Die Werkstatt 2006
– Andrei S. Markovits: „Warum gibt es kein Fußballspiel in den USA?“ In: Der Rabe 28, Haffmans Verlag 1990
– Dirk Schümer: Gott ist rund. Die Kultur des Fußballs, Berlin Verlag 1996
– Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, Kiepenheuer & Witsch 2004
(Dieser Essay ist die stark überarbeitete Version eines Textes, der vor Jahren pseudonym erschienen ist.)