von Martin Bartholmy
Vermischte Überlegungen zum Werk von Hans Magnus Enzensberger, genauer, zu seinen Essays und der Entwicklung, die sein Denken genommen hat, wobei auch der Lyrik geringer Platz eingeräumt wird, aber wirklich nur ein ganz geringer.
(Ein Remix zweier Texte, beide vor Jahren pseudonym im Druck erschienen.)
Wenn einer in einer Kochnische ein in einer Marktnische gefundenes und aus einer ökologischen Nische stammendes Ökoprodukt zubereitet, folgt dann, dass das fertige Gericht ein Nischenprodukt ist? – Eine Denksportaufgabe, und wer, wenn nicht ein Meisterdenker, wird die Antwort finden?
Hans Magnus Enzensbergers Buch Nomaden im Regal von 2003 versammelt ausgewählte Essays aus 25 Jahren – und ist somit eine Zwischenbilanz seiner Arbeit in diesem Genre. In eigener Sache schreibt Enzensberger:
Es gibt nicht viele Produkte des menschlichen Geistes, von denen sich sagen ließe, daß sie der Gesetze des Marktes spotten. Neben der Poesie genießt nur der Essay eine so enorme Immunität. Sich über ein derartiges Privileg zu beschweren wäre nicht nur undankbar, es wäre widersinnig.
Ebenfalls 2003 erschien ein neuer Gedichtband Enzensbergers, Die Geschichte der Wolken – Anlass genug zu prüfen, wie abseitig der Essay, wie abseitig das Gedicht ist.
Enzensberger mag Recht haben : Alles in allem sind Essay und Gedicht Randsportarten, von Ausnahmen abgesehen; Branding spielt eine Rolle. Ein Essay Marke Enzensberger erscheint im Spiegel, in der FAZ – und also nicht an Orten, die für Abgelegenheit und Marktferne bekannt sind. Nicht selten sind solche Enzensberger-Essays Anlass für ausgedehnte Debatten im Feuilleton und darüber hinaus. Bei den Gedichten mag es zutreffen: Zwar werden auch die, sind sie von Enzensberger, rezensiert. Ob sie aber viel gelesen werden? Ich glaube nicht.
Abseitsfalle im Mittelkreis
Enzensberger gefällt sich in seiner Nischenexistenz. Für einen so bekannten Autoren, einen, der lange schon als der deutsche öffentliche Intellektuelle gilt, ist solch Koketterie ärgerlich. Wozu kommt, dass Enzensberger seine Nische nicht nur beschwört, er verteidigt sie auch mit Bedacht. In Nomaden im Regal listet er zeitgenössische Essayisten auf, die er für bedeutend hält: Chatwin, Naipaul, Lem, Wolfe, Calvino. Aber deutsche Autoren? – Fehlanzeige. Kein Rutschky, kein Goldt, kein Gernhardt. An Unkenntnis liegt es nicht. In einem Essay des genannten Bandes, Titel Über die Gutmütigkeit, findet sich ein langes Zitat von Max Goldt. Man liest es, freut sich – und man fragt sich, wozu es Enzensbergers Text drumherum braucht, bringt doch Goldt alles gewandt wie anmutig auf den Punkt.
Der Künstler in seiner Nische bespiegelt sich gerne selbst.
(Foto: Martin Bartholmy. Eine hochauflösende Version des Bildes gibt es hier.)
Dennoch lohnt es, Enzensbergers Band zu lesen. Er ist, geht einmal nicht die Eitelkeit mit ihm durch, ein guter Stilist, und er kann, dann und wann, gekonnt über sich und die Welt nachdenken. Manchmal hat er gar Humor: „Auch wenn die Gotteshäuser leer sind und die Bauernhäuser sich in Ferienwohnungen verwandeln, spricht manches für den Rat, die Kirche im Dorf zu lassen.“
Ist das Medium die Message?
Themenbereiche, zu denen Enzensberger sich immer wieder geäußert hat, sind Medien und Medienkritik, internationale Politik, Totalitarismus und Terror sowie das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften. Der Band Einzelheiten I (1962) versammelt vorzüglich Aufsätze zu den Medien und ist noch heute erhellend. Auch spätere Stücke, wie die in der Sammlung wiederveröffentlichten Lob des Analphabetentums (1985) und Das Nullmedium oder warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind (1988) sind Grundtexte ihrer Art. In beiden hebt Enzensberger sich klug und unaufgeregt ab vom Gejammer über den Untergang des Abendlandes, verursacht durch Fernsehen und Bildungsmisere. Kulturpessimismus, so Enzensberger, ist elitärer Schmonzes – ein Reden, das sich schon deswegen nicht um Wirklichkeit schert, da der aufgeklärte Schreiber, je dunkler das Bild, das er malt, sich um so besser im eigenen Glanz sonnen kann. Die Fiktion von der dumpfen, breiten Masse, die von Vulgärmedien nach Belieben manipuliert wird, macht jenen, der dies diagnostiziert, automatisch zum Distinktionsgewinner. Ähnlich und ähnlich stimmig heißt es in Das digitale Evangelium (2000) über die Medienmenschen:
Man hat oft den Eindruck, daß Journalisten bei ihrer Arbeit kaum einen Gedanken an ihre Leser wenden; worauf es ankommt, ist das Urteil ihrer Konkurrenten, einer winzigen Zielgruppe, von der aber ihre Karriere abhängt.
In diesem Essay stößt Enzensberger aber auch an seine Grenzen. Seine Analyse des Internets krankt nicht nur daran, dass sie den New Economy-Hype für bare Münze nimmt (kurz vor dem Crash von 2001 ein vielleicht verzeihlicher Fehler), sondern vor allem daran, dass Enzensberger sich mit der Nutzung des Netzes nicht sonderlich auskennt. Der Checker der alten Medien verhaut sich, wenn er glaubt, sein gut abgehangenes Checkertum ließe sich ohne Mühe auf Neues übertragen.
Die verbesserliche Welt
Zur Weltpolitik finden sich in Nomaden im Regal vor allem ältere Texte. Lesenswert ist Das höchste Stadium der Unterentwicklung (1982), ein Verriss des real existierenden Sozialismus, auch wenn, durch das Verschwinden seines Gegenstands, dieser Aufsatz heute vor allem von historischem Interesse ist. Nach wie vor aktuell sind Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang (1978) und Über die unaufhaltsame Verbesserung der Welt (2002). Im ersten Text heißt es, in einem Brief an einen Freund:
»Die Kapitalisten sind ebenso wie die Sozialisten außerstande, die Zukunft zu verstehen, und sie sind ebenso verblüfft darüber, daß ihre Theoretiker und Propheten versagt haben.«
Hobsbawn hat recht: Das ideologische Defizit existiert auf beiden Seiten. Dennoch gleicht sich der Verlust an Zukunftsgewißheit nicht aus. Er ist für die Linke schwerer zu tragen als für diejenigen, die nie etwas anderes im Sinn hatten, als um jeden Preis einen Zipfel ihrer eigenen Macht und ihrer eigenen Privilegien festzuhalten. Aus diesem Grunde verlegt sich die Linke darauf, wie du, lieber Balthasar, zu klagen und zu schimpfen.
Das ist, über zehn Jahre vor Ende des Kalten Kriegs, scharf beobachtet. Seither, allerdings, hat sich gezeigt, auch die Eliten können den Verlust an Visionen oder, zumindest, eines Buhmanns und Gegners, der solche hat, schlecht wegstecken, und es wird generell – links und rechts sind da ununterscheidbar – gejammert und gebibbert. Ist der Glaube an das nahe Ende da, werden, angesichts des Absoluten, die Lager rar bis unsichtbar. (Wer das für Unsinn hält und zum Beweis die Kontroversen anführt, deren Krach uns rundum beschallt – Fahrverbote, Sprache gendern, Generationengerechtigkeit, Multikulti – verwechselt Fahrwasser und Grundströmung.)
Auf die allgemeine Katerstimmung – heute sitzt sie tiefer, als zu der Zeit, als der Text erschien – gibt der Essay Über die unaufhaltsame Verbesserung der Welt angemessen Antwort. Welternährung, Medizin oder auch so etwas wie Selbstverwirklichung, erinnert uns Enzensberger, sind sehr moderne Errungenschaft, und in vielen Bereichen geht es, man mag es, verfolgt man die Nachrichten, kaum glauben, auch erheblich voran. Enzensbergers Resümee:
Schade, daß wir das nicht zu schätzen wissen. Schade, daß auf jede Triumphmeldung wie das Amen in der Kirche der Satz folgt: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie ihren Arzt oder Apotheker.
Das „Ende der Utopien“ hat es mit sich gebracht, dass auf jede gute Neuigkeit reflexartig ein zynisches Aber folgt. Skepsis ist gut, doch braucht sie Gründe. Die rastlose Rede von der Kehrseite, der Dunkelziffer, der üblen Nebenwirkung kommt sehr oft ohne diese Gründe aus, und nicht selten wird vergessen, hat etwas einen Pferdefuß, dann handelt es sich dabei manchmal einfach um ein Pferd.
Kopfrechnen
Mit den Naturwissenschaften und deren Verhältnis zu den Geisteswissenschaften hat sich Enzensberger wiederholt beschäftigt, und er hat versucht, die Kluft zwischen den beiden Sphären zu überbrücken. Der Ertrag ist dürftig, leider, denn oft wissen Geisteswissenschaftler von den Naturwissenschaften nichts, und ob sich bestimmte Erkenntnisse mit Gewinn aus einem Bereich in den anderen übertragen lassen, wird nicht einmal erwogen. Enzensberger versuchts, doch kommen dabei Plattheiten heraus, zum Beispiel folgende zum Thema Überbevölkerung: „Ihre Experimente [die der Verhaltensforscher] haben gezeigt, daß dort, wo Tiere zuwenig Platz haben, Gewaltausbrüche und psychische Störungen unvermeidlich sind.“
Die Erkenntnisse einer Wissenschaft können in einer anderen nur dann produktiv werden, wenn man sie in deren System und Methoden übersetzt. Setzt man, wie Enzensberger, die Dinge gleich, sind die Ergebnisse abstrus – so, als behaupte man, der aus der Geschichte bekannte Satz, je größer der Glaube, umso höher die Sakralbauten, beweise, unter den Insekten seien die Termiten die gottesfürchtigste aller Ordnungen.
Fatal auch Enzensbergers Ritte auf seinem Steckenpferd, der Mathematik. Ohne Sinn und Not betröpfelt er Texte mit mathematischen Ausdrücken, um Gedankengänge, bei denen es ihm an Einsichten, an Ideen gebricht, mit einem axiomatischen Satz zu versiegeln – Beispiel: ‚das folge aus der Gaußschen Normalverteilung’. Dergleichen ist nicht nur dumm, es ist kreuzeitel und ärgerlich. Leider ist seit den 1990er Jahren bei Enzensberger die Tendenz stark aufgekommen, alte Gewissheiten, deren Verschwinden er oft gut beschrieben und analysiert hat, zu ersetzen durch feste Größen, durch Lehrsätze aus Mathematik oder Biologie. Hier endet das Denken, und hier beginnt nicht die Physik, hier beginnt die Wunderwelt der Metaphysik.
Am Ende des Essays Die Poesie der Wissenschaft (2001) schreibt Enzensberger:
Auf die Gefahr hin, manchen ‚harten’ Verteidiger des Status quo vor den Kopf zu stoßen, kann man die Behauptung riskieren, daß die avancierteste Wissenschaft zur zeitgenössischen Form des Mythos geworden ist.
Hier produziert Enzensberger mit viel Küchenzauber ein Gericht aus Mandelbrotmasse, gequirlt mit einem Aperçu von Weierstraß und kredenzt an pochierter Risikotheorie – doch hebt man die Haube vom Teller, was ists? : ein Pfannkuchen mit Apfelmus. Für einen Moment, nachdem er einen Abschnitt lang über „dissipative Strukturen und nicht-lineare Logik“ etc. geschrieben hat, äußert er Zweifel:
Natürlich läßt sich das auch simpler ausdrücken. Man könnte behaupten, die Wissenschaft sei auf dem besten Wege, den Zufall wieder in seine alten metaphysischen Rechte einzusetzen. Allerdings wäre mit dem Rückfall in eine vorwissenschaftliche Begriffswelt nichts gewonnen.
Wirklich nicht? Vielleicht wäre damit einiges gewonnen, und vielleicht brächte gerade die verworfene Formulierung vom „Zufall“ das, worum es geht, besser auf den Punkt, als mathematischer Angeberjargon.
Gequirlte Quantenmechanik
Die Wissenschaft schlägt sich auch in Enzensbergers Gedichtband Die Geschichte der Wolken unangenehm nieder. Im Gedicht Schwäne wird, einem Satz von Karl Popper folgend, die Logik der Induktion verworfen, weil der Sprecher auf einer Insel Hunderte von schwarzen Schwänen sah. – Ah ja, vielen Dank auch.
Ähnlich einfältig, ähnlich langweilig sind fast alle Gedichte, unter den 99 sind zwei gute. Zum Rest gibt es nicht viel zu sagen, nichts was freut, nichts was ärgert, keine Gedanken, keine Schönheit – es ödet stark an und müffelt. Lassen wir diese Lyrik ruhig in ihrer sehr kleinen Nische stehen, und gestehen, was sie angeht, Enzensberger sein Nischendasein zu.
Wie aber konnte es dazu kommen, dass ein Denker, Schreiber, der über Jahrzehnte hellsichtig und elegant die Gegenwart untersuchte und ihren Strömungen nachspürte, ab den 1990er Jahren so ganz aus der Spur lief? Enzensbergers Aufsätze aus dieser Zeit liefern mehr als nur Indizien, so der Band Zickzack (1997) der Texte versammelt, die zwischen 1989 und 1996 entstanden, dazu die beiden langen, eigenständig erschienen Essays Die Große Wanderung (1992) und Aussichten auf den Bürgerkrieg (1993).
Die Große Wanderung handelt von Flüchtlingsströmen und Rassismus – und also von Fragen, die seinerzeit durch den Fall des Eisernen Vorhangs, den Jugoslawienkrieg und Angriffe auf Unterkünfte von Asylbewerbern viel diskutiert wurden, nicht zuletzt, da allen voran die Deuter – Journalisten, Wissenschaftler und Intellektuelle – nach Ende des Kalten Krieges jede neue Entwicklung beäugten und versuchten, aus ihr zu destillieren, wie die neue, aufgetaute Welt sich gestalten werde. Enzensberger, für seinen Teil, reagierte auf die Unsicherheit einer Welt, der ihre Ordnung abhanden gekommen war, indem er Geschichte durch Natur ersetzte.
Ist eine Gesellschaft aus dem Gleichgewicht, ist die Frage „Was tun?“ schwer zu beantworten, nicht zuletzt, da die zahlreichen Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft meist sehr unterschiedliche Ansichten haben. Ist die Natur aus dem Gleichgewicht, ist die Antwort vielleicht nicht simpel, doch ist sie erheblich einfacher, denn Fisch und Fichte schweigen, und also versuchen die Menschen, denen das Problem auffiel, es zu ergründen, zu modellieren und dann die ökologischen Stellschrauben so zu justieren, dass alles wieder flutscht.
… und, könnte man fragen – und das in wirren Zeiten umso mehr –, … und, warum kompliziert, wenn es auch einfach geht – und die Natur sowieso mehr und mehr das vorherrschende Erklärungsmuster stellt, und es gang und gäbe ist, den Menschen und seine Angelegenheiten als die eines Primaten, eines Säugetiers zu erklären.
Enzensberger hat rasch gemerkt, wie fix und elegant sich das Problem der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) eskamotieren lässt, ersetzt man Gesellschaft und Geschichte durch natürliche, naturgesetzliche Eigenschaften, welche einer mathematisch-physikalischen Logik gehorchen, das heißt, die quasi ewigen Gesetzen folgen, Gesetzen, die kein Mensch gemacht hat.
Neue Unübersichtlichkeit, alte Allheilmittel
Entsprechend erfährt man bei Enzensberger: „Gruppenegoismus und Fremdenhaß sind anthropologische Konstanten“. Und an konstanten Phänomenen lässt sich nichts ändern, sorry, höchstens, dass man ihnen den Anlass nehmen kann. Enzensbergers Vorschlag geht denn auch dahin, Krieg und Rassismus zu verhindern, indem man die Menschheit dezimiere, um sodann ausreichend breite Sperrkorridore zwischen den ewigen Streithähnen einrichten zu können.
In Hitlers Wiedergänger (1991) erfahren wir, Saddam Hussein sei Hitler und das deutsche Volk des Dritten Reichs das irakische Volk von heute. Diktatoren wie Saddam und Hitler, so Enzensberger, seien immer wieder in der Geschichte auftretende „Feinde des Menschengeschlechts“. Und was sind die Motive des Volks, das solche Bestien an die Macht bringt? – „Was die Deutschen begeisterte, war nicht allein die Lizenz zum Töten, sondern mehr noch die Aussicht darauf, selbst getötet zu werden.“ Ein angeborener Todestrieb bräuchte demnach nur eine triggernde thanatogene Situation – und schwupps wird ein ganzes Volk zu Lemmingen und begeht begeistert erweiterten Massenselbstmord. Coole Theorie. Nur leider trifft sie nicht einmal auf Lemminge zu.
Vielleicht merkte Enzensberger, es ist etwas dünn, geschichtliche Vorgänge und menschliches Verhalten rein biologisch zu erklären – und zudem kann der Versuch leicht in eine bestimmte Ecke gestellt werden, eine Ecke, die nicht der Nische entspricht, die Enzensberger bewohnen möchte. Im programmatischen ersten Essay von Zickzack, Titel: Vom Blätterteig der Zeit, greift Enzensberger weiter aus und entwirft mit einigem Aufwand an Mathematik und Diagrammen eine Chaostheorie der Geschichte. Die funktioniert so: Setzt man einen Punkt auf ein Quadrat aus Kuchenteig, walzt das Quadrat zum doppelt langen Rechteck aus, schneidet es durch und legt die beiden Hälften dann wieder zu einem Quadrat zusammen – und walzt und teilt so fort – dann wird man am Ende feststellen, dass der Punkt „auf bizarre Weise“ auf dem Quadrat hin und her gewandert ist, scheinbar zufällig, obwohl doch „aus einem streng deterministischen Prozeß hervorgegangen“ … und wenn das in der Küche und in der Mathematik so ist, folgert Enzensberger, warum sollte es sich mit historischen Ereignissen nicht ebenso verhalten?
Zwar, das räumt Enzensberger ein, ist die Frage, wie sein Blätterteig sich konkret auf die Geschichte auswirkt, mit Mathematik nicht zu beantworten: „Wo es um inhaltliche Fragen geht, versagt die Bernoulli-Verschiebung, und man ist auf die Erfahrung angewiesen.“ Wenn das so ist, was spricht dann dafür, dass Geschichte in unvorhersehbaren Variationen chaotisch abläuft? – Es ist die Welt, wie Enzensberger sie wahrnimmt, als wirr nämlich und als unverbesserlich:
Auf allen Kontinenten klammern sich halsstarrige Minoritäten an anachronistische Vorstellungen. Unverbesserliche berufen sich, um ihre Ansprüche zu rechtfertigen, auf Schlachten, die vor mehreren Jahrhunderten geschlagen worden sind, und versammeln Hunderttausende unter mittelalterlich anmutenden Bannern. Keine Errungenschaft der Neuzeit ist davor gefeit, sich plötzlich in Nichts aufzulösen; es gibt Landstriche, in denen sogar der Staat als Inbegriff der Ordnung verschwunden ist.
Rechnende Milchmädchen sprechen Küchenlatein
Addiert man hierzu die Tatsache, dass „unser genetischer Code (…) vor Milliarden und Millionen von Jahren entstanden“ ist, und wir also von anachronistischen genetischen Programmen gesteuert werden, dann geht Enzensbergers Milchmädchenrechnung auf, und er hat seinen Beweis, dass Geschichte nichts anderes ist als Natur – Natur, die im Kern unverständlich, unerklärlich und unveränderlich ist.
Wenn sich die Welt erheblich verändert, und dies zudem geschieht, wenn einer, der von Beruf Welterklärer ist, bereits viele Jahrzehnte eine ältere Version dieser Welt bewohnt hat, dann verliert der Betroffene leicht die Fassung, gerät aus der Fasson. Sicher, Enzensberger hätte eben dies eingestehen können; er hätte versuchen können, über sein Unverständnis nachzudenken – denn nicht selten wird es gerade dann besonders interessant, wenn einer die Welt nicht mehr versteht und versucht, den Gründen nachzuspüren – und damit bei sich und seiner Umgebung beginnt (anstatt bei Kosmos und Theodizee).
Enzensberger hätte das tun können, und bei einem so klugen, welterfahrenen Mann wäre der Ertrag vielleicht beträchtlich gewesen. Er tat es nicht. Vermutlich kam ihm auch hier seine Eitelkeit in die Quere. Einer, der über Jahrzehnte die Welt erklärte, und dem das oft gut gelang, der muss über einige Schatten springen, bevor er zugeben kann: Ich versteh die Welt nicht mehr. Täte er es, er könnte keine Neujahrspredigt halten (so der Untertitel des Essays Vom Terror der Verschwendung), eine Predigt, die, wie alle Neujahrspredigten, besser ungehalten geblieben wäre, weiß man doch, an Neujahr sollte man ausschlafen, nur leichte Kost zu sich nehmen – und nicht philosophieren, sondern staad sein und das Neujahrsspringen in Garmisch gucken.
Wie das neue Jahr zu begehen sei
In jener Predigt und in dem Aufsatz Luxus – woher, und wohin damit? liest uns Prälat E. die Leviten, denn das Streben nach Luxus, eine angeborene Eigenschaft des Menschen, sei heute völlig außer Kontrolle geraten, und fortschrittswahnsinnige Wissenschaftler verpulverten Milliarden für Transrapid, Teilchenbeschleuniger und Weltraumtechnik. Rasender Fortschritt? Ob es sich dabei um nutzlosen Luxus handelt, ist zumindest fraglich. Und in der wirklichen Welt wurde in den USA ein neuer Teilchenbeschleuniger auf Eis gelegt (1), ist der Transrapid alte Technologie (und weitgehend ungebaut), und ist auf dem Mars noch immer kein Astronaut gelandet. Enzensberger halluziniert.
Was stimmt ist das Genre – Enzensbergers Text ist eine Buß- und Fastenpredigt: Alles ist zu weit gegangen, Völlerei und Lasterleben, und nun ist sparen angesagt. Rhetorisch hat Enzensberger mehr auf dem Kasten als ein Finanzminister, und so verklickert er uns, es ginge nicht darum, Luxus aufzugeben, nein, vielmehr müsse man den Begriff umdefinieren; in Zukunft solle Luxus bedeuten: „Ruhe, gutes Wasser und genügend Platz“, dazu noch Sicherheit, Zeit und Aufmerksamkeit.
Den Rückzug in diesen neuen Luxus scheint Enzensberger vollzogen zu haben. Es ist der Luxus des reichen Eigenbrötlers – das Leben im Penthouse mit privatem Wachschutz. Die böse Welt ist ausgeschaltet, vor den Barbaren schützt ein Cordon sanitaire. Hinter den Mauern des neuen Luxus muss Enzensberger die „fremde und seltsame Welt“ nicht mehr zur Kenntnis nehmen, und ungestört kann er am Abakus seinem Glasperlenspiel nachgehen.
Die Welt hat sich in den letzten Jahren verändert. Das tut sie meist. Nur der Grad der Veränderung schwankt. Ebenso schwankt das Maß, in welchem maßgebliche Kreise Veränderung wahrnehmen. Veränderung und ihre Wahrnehmung klaffen dabei umso weiter auseinander, je mehr jene Kreise, abgehoben wie Ballons, weit überm Erdkreis schweben. Weitreichendes Verständnis setzt voraus, dass es deutliche Schnittmengen gibt, Vereinigungsmengen gar, zwischen Gesamtheit und Intellektuellen (man darf sich das nur nicht zu kumpelhaft anbiedernd vorstellen : Es geht nicht darum, wie Journalisten es gern tun, einzubringen, was der Taxler, was ihr Frisör gesagt hat).
Dabei kann es schon hilfreich sein, sich abzuscheiden, Far from the Madding Crowd, – hilfreich, wenn man so das Hintergrundrauschen ausblenden und ungestört und frei aufs Große, Ganze blicken kann; es kann aber auch dazu führen, dass ein an sich schlauer Beobachter in seiner Vereinzelung mehr und mehr von sich selbst auf die Anderen schließt – oder, viel wahrscheinlicher noch, von seinen Phantasien über die Anderen auf die Anderen –, anstatt sich dem zu öffnen, was andere Menschen erleben und erfahren, singen und sagen.
Früh krümmt sich, was ein Zirkel werden will
Fataler als Isolation ist die Isolation als Gruppe, Clique, Kaste. Kocht ein Kreis von Gleichgesinnten, Gleichgepolten im eigenen Saft, dann führen Rückkopplungen und Regelkreise zu einer sich selbst verstärkenden, konformen Weltsicht, zu einem Selbstverständnis, einer Gruppenidentität, in die von außen so gut wie nichts mehr vordringt – und durchschlägt doch einmal Fremdes den Schutzschild, verhält sich dieser wie eine Legierung mit Formgedächtnis und nimmt fix wieder die ursprüngliche Gestalt an. Für solche geistigen Kreise gilt, leicht abgewandelt, was Enzensberger über Journalisten schrieb: ‚Man hat oft den Eindruck, dass Intellektuelle bei ihrer Arbeit kaum einen Gedanken an die Anderen wenden; worauf es ankommt, ist das Urteil ihrer Konkurrenten, einer winzigen Zielgruppe, von der aber ihr Ruf abhängt.‘
Sehr lange waren die Pole links – rechts für Intellektuelle prägende Wegmarken, so prägend, dass selbst Häretiker ihnen nicht entgingen und nur die Seiten wechselten. Der Wegfall dieser Pole hat, zusammen mit dem Ende der alten Weltordnung, vielfach dazu geführt, dass bestimmte Veränderungen überschätzt werden, denn dauerhafter als die Ordnung, von der sie sich herleiten, sind die Erklärungsmuster (was auch dazu führt, dass Phänomene der Welt, die außerhalb dieses Spektrums liegen, nicht wahrgenommen werden). Versucht man, mit Erklärungsmustern, die ihren Bezugsrahmen verloren haben, die aus dem Rahmen gefallene Welt zu verstehen, erzeugen die Verzerrungen, zu denen es dabei notwendig kommt, den Eindruck, die Welt bewege sich chaotisch und rasant.
Bei der Klage über den Verfall von Kultur und Werten zeigt sich das ebenso, wie bei der Behauptung, heute verliefe der technische Fortschritt stürmisch wie nie. Zwar gibt es technischen Fortschritt, und in manchen Bereichen ist er beachtlich, doch viele Intellektuelle und Künstler überzeichnen sein Ausmaß nicht zuletzt deshalb gewaltig, weil sie, was ihr eigenes Feld, was Kultur und Kunst angeht, den Glauben, es besser machen zu können, lange schon verloren haben : Wer von ihnen glaubt, er könne Proust, Joyce, Kafka toppen?
In der Bildsprache eines anderen Feldes kann man es so ausdrücken: Ein Beobachter, dessen eigener Standpunkt stillsteht, nimmt durch seinen Bezugsrahmen Phänomene in seiner Umgebung anders wahr, als einer, der sich rasant fortbewegt. Es wäre an der Zeit, dass sich die Dichter und Denker eine Scheibe und mehr abschneiden von den Gentechnikern, den Astrophysikern und von den Teilchenbeschleunigern.
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(1) Der Bau des Superconducting Super Collider (SSC), 1991 begonnen, wurde 1993 eingestellt.

