Das war. Das ist gewesen. – Sie setzt den Füller ab, schraubt die Kappe fest und sieht auf das Geschriebene. Eine Überschrift. Ein Anfang. Alles in guter Ordnung. Sie hält das Heft schräg ins frühe Licht, das durchs Fenster in ihre Zelle fällt. Der Punkt, das N sind feucht noch und glänzen. Sie haucht aufs Blatt. Nun glänzen sie nicht mehr. Der letzte Buchstabe, während man ihn schreibt, sind die Buchstaben davor bereits Vergangenheit, und doch sind sie, schwarz auf weiß, andauernde Gegenwart. Der Pfeil der Zeit richtet nichts aus, auch wenn, was da steht, sie ins Herz träfe. Sie schraubt die Kappe wieder ab. Sie schreibt: Geboren wurde ich – und dass das so ist, muss ich nicht belegen; dafür bin ich der Beweis – geboren wurde ich am 26. Dezember, am Stefanitag, oder, wie die Deutschen sagen (klingt das fad), am zweiten Weihnachtsfeiertag, aber wir Österreicher: Stefanitag. Dafür, dass ich an diesem Tag geboren wurde, gibt es keinen Beweis – wenn man nicht eine amtliche Urkunde als Beweis ansieht, aber welt- und autoritätsgläubig bin ich nicht: Papier ist geduldig, Stempel Schamott. Dennoch (und das zählt) glaube ich, dass ich an einem 26. Dezember geboren wurde, nicht, weil mir meine Eltern dies erzählt hätten (sie haben es mir erzählt, doch lag bei ihnen Fug und Unfug oft nah beieinander), sondern ich glaube es. Punkt.
… und welcher ist der Pfeil der Zeit?
(Foto: Martin Bartholmy. Eine hochaufgelöste Version findet sich hier.)
Ein Geräusch. Nicht auszumachen, ob auf dem Gang, ob in einer der anderen Zellen. Etwas hatte gescheppert. Ein Blecheimer vielleicht. Sie lauscht. Es folgt nichts. Sie überlegt: Wer hatte es ihr zuerst gesagt? – Zu lange her und nicht zu entscheiden. Der Vater hatte gesagt: Es ist wegen deiner Mutter. Die Mutter hatte gesagt: Es ist wegen meiner Mutter. So oder so, der Vater hatte sich Clara gewünscht, aber bekommen hat er eine Stefanie. Der Vater war geradlinig. Hatte er einen Weg eingeschlagen, dann blieb er ihm treu, da gab es kein rechts heraus, kein links heraus, das lag daran, dass er Bahner war, mit 14 angefangen bei der Bundesbahn und immer bei der ÖBB geblieben, vom Stift in der Werkstatt bis zum Lokführer, wenn auch nur Güterverkehr (einem Kummerl wie ihm Fahrgäste anvertrauen, das ging, gleich wie zuverlässig er war, zu weit, denn unter den Fahrgästen waren bessere Leute). Die Mutter dagegen neben der Spur – aus Prinzip. Immer alles anders machen als die anderen, vor allem als die eigenen Anderen, denn die eigenen Anderen waren bessere Leute, die konnten nichts als sekkieren, und mit diesen besseren Leuten hatte sie nichts am Hut, da ging sie barhaupt auf die Gasse und behütet in die Messe, und das Einzige an dem sie festhielt war ihr Widersinn im Widersinn, das Einzige war die Familie, die war ihr heilig, aber nicht heilig wie anbeten und Amen, sondern mit der Familie stritt man sich und überwarf man sich, aber das nur, um sich umso öfter mit ihr aussöhnen zu können, und das Problem aber war, dass sie unter ihrem Stand geheiratet hatte und den Vater geheiratet hatte, und nun waren da zwei Familien, die gingen nicht zusammen – sie als Mutter und sie als Tochter –, und da hat sie einmal einen Kompromiss gemacht, da war sogar der Vater beeindruckt, dass sie das konnte, Sonnenuhr springt über den eigenen Schatten, und sie hat dem Kind den Namen Stefanie gegeben, weil Stefanitag, und den Eltern konnte sie sagen wegen dem lieben Gott, und der Vater konnte sich auch nicht beschweren, wenn, was seine Partei sehr ablehnte, der Namenstag gefeiert wurde, denn der Namenstag war der Geburtstag, und so hätten alle zufrieden leben können, nur dass mich keiner gefragt hat, aber wie auch, dafür war ich viel zu klein.
Für den Vater wurde es dann schwierig und schwieriger mit der Partei und der Arbeit, und man hat ihn in die Werkstatt abgeschoben und ihm Stunden gestrichen und alles, und die Mutter hat arbeiten müssen, aber im Modegeschäft der Eltern, und das ging nicht gut, natürlich, und man ist weg, also, man ist von Wien nach Leipzig gegangen, und der Vater hat Züge geführt, zwar nicht solche mit Fahrgästen, aber dafür solche mit Genossen, und die Mutter hat für die Messe gearbeitet, weil Wienerin – Flair von großer Welt, und die kleine Stefanie ist erst in die Schule gegangen und dann ist sie zur Jugendlichen geweiht worden, Weltall, Erde, Mensch, und alles hätte gut sein können.
Sie sieht in das Heft. Sie liest: Das war. Das ist gewesen. – Sie schraubt die Kappe vom Füller. Sie schreibt: Im Großen Ganzen merke ich mir das, was ich selbst erlebt habe. Mein Ex nannte mich selbstverliebt, meinte damit aber, dass ich ihn zu wenig liebte, und damit hatte er recht. Es war von kurzer Dauer und sein Gesicht schon ganz verblasst. Im Großen Ganzen, glaube ich, muss Wissen und muss Erinnerung und muss Einsicht erfahren sein, und nur was ich erlebt habe und erfahren habe ist bemerkenswert, und am bemerkenswertesten das, was wir weder sehen noch hören noch riechen und doch erfahren und deshalb mit besonderer Hingabe, besonders rückhaltlos erfahren – die innere Einsicht, die alles um uns durchfährt und durchfärbt und …
Sie steht auf. Sie tritt ans Fenster. Der Hof gähnt von der Morgensonne halb verschattet. Einen Spalt weit öffnet sie das Fenster und, als habe sie im Vakuum gesessen, strömt ihr Luft ins Gesicht und wässert die Augen. War zuerst der Vater weggewesen? Eine falsche Weiche, ein totes Gleis? Nie hatte mans ihr gesagt, als sei es ein Geheimnis höherer Ordnung. Hatte die Mutter das Verhältnis davor schon oder erst danach? Sie hatten nicht darüber gesprochen, und dann war die Mutter weggewesen, die nächste Runde in ihrer permanenten Revolte, in den Westen gegangen mit ihrem Krämer, den kannte sie von der Messe her. Was sollte sie klagen. Sie war erwachsen gewesen, hatte ihren Ex. Der hat sie nicht gehalten. Und sie hatte den Pass, er nicht : Gründe, Abgründe. Geradlinig wie ihr Vater ist sie zurück nach Wien, ist zur Großmutter; aufmüpfig wie ihre Mutter hat sie deren Aufmupf verworfen und ist bei der Großmutter eingezogen (Großvater war nicht mehr, der war in einer besseren Welt).
Sie schließt das Fenster, schraubt die Kappe vom Füller. Sie schreibt: Ein Wind hat mich getroffen, ein Hauch : Himmel, Erde, Mensch. Zur Taufe trägt man keinen Hut. Berufung ist, wenn keiner ruft, doch hört mans ganz genau. Und nach der Wiedertaufe aber ging das Rufen weiter und rief sie, den Weg weiter und bis ans Ende gehen. Und sie ging weg von Wien, ging nach Brixen. Dort die Einkehr. Dort die Erkenntnis: Wer Sturm jätet, wird Windstille ernten.
Sie hält inne. Etwas wie ein Geräusch. Es wird klarer: Schritte, draußen auf dem Gang – sie nähern sich der Tür und sie entfernen sich wieder. Wie immer um diese Zeit, immer in die selbe Richtung. Jetzt ist es nicht mehr lang. Sie weiß es, und der Lichtfleck an der Wand unterstreichts : aus dem rissigen Rauputz macht er Mond : Krater, Kanäle. Sei wie die lunare Uhr, zähl die dunklen Stunden nur. Sie sieht in sich die Zeit, einen Strich, Pfeil, Zeiger. Einen Strich der nie endet, einen Zeiger, der sich endlos bewegt, kann sie nicht sehen. Zeit ist Vergangenheit, ist tot; denn nur was war lässt sich auch messen, und vermessen ists, in dem was erst wird, eine Fortsetzung des Abgestorbenen erkennen zu wollen. Die Zukunft, das glaubt sie, ist ganz anders, ist ohne Zeit, ein schwarzer Schwan, schwer hebt er sich vom Wasser, doch ists gelungen, und er schüttelt die Tropfen ab, dann fliegt er, fliegt … Sie sieht in das Heft. Sie liest: Das war. Das ist gewesen. – Das war ein anderes Leben. Das war nicht mehr. – Was ist geblieben? Ist etwas geblieben? Der Name. Den Namen hatte sie behalten, ganz gegen die Sitte, doch passte er schön, und nur der Form halber wurde aus der Stefanie eine Stephanie.
Ein leiser tiefer Klang. Dann setzt das Läuten ein : viele Glocken, ein Geläut. Zeit für die Morgenmette, Zeit, sich anzuschließen an die anderen Klarissen. Schwester Stephanie steht auf.
Diese Erzählung ist zuerst erschienen in: junge Welt, 23. Dezember 2023